Herr Hassenfratz, Sie haben Ihr Drehbuch geschrieben, nachdem die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschuld bekannt wurden. Was genau hat Sie an dem Thema interessiert?
Film Hassenfratz: „Die Idylle auf dem Land gab es nie“
Düsseldorf · In seinem Kino-Debüt „Verlorene“ schildert Felix Hassenfratz ein Familiendrama in der Provinz. Am 11.1. feiert der Film im Metropol seine NRW-Premiere.
Felix Hassenfratz (37) erzählt in seinem ersten Kinofilm „Verlorene“ von zwei Schwestern, die alleine mit ihrem Vater (Clemens Schick) in einem süddeutschen Dorf leben. Die 18-jährige Maria (Maria Dragus) spielt leidenschaftlich Orgel und will an einem Musikkonservatorium studieren. Doch sie hütet ein dunkles Geheimnis. Ihre 16-jährige Schwester Hannah (Anna Bachmann) sucht immer wieder das Gespräch mit ihr, doch Maria schweigt. Die Geschichte wendet sich, als Valentin (Enno Trebs), ein junger Zimmermann auf der Walz, im Betrieb des Vaters anheuert. Maria und er entwickeln Gefühle füreinander. Die Wahrheit kommt ans Licht und das Drama nimmt seinen Lauf. Wir sprachen mit Felix Hassenfratz über sexuellen Missbrauch, dörfliche Doppelmoral und den Zauber von Orgelmusik.
Felix Hassenfratz: Was mich so schockiert hat, ist dieses oft jahrzehntelange Schweigen und die Schuldgefühle, die diese Opfer mitbringen. Warum deckt ein Opfer ganz oft über viele Jahre hinweg den Täter? Warum ist es so schwer, an die Öffentlichkeit zu gehen? Da gibt es ein System, in dem Menschen offensichtlich sehr stark gefangen sein können. Aber es gab noch eine zweite Zahl, die ich schockierend fand: Fast 90 Prozent aller Fälle finden nach wie vor in der Familie und im familiären Umfeld statt.
Wie ist es denn zu erklären, dass die vom Missbrauch betroffene Figur in Ihrem Film alles unternimmt, damit das Verbrechen geheim bleibt?
Hassenfratz: Erstens ist für viele Opfer über viele Jahre hinweg das Gefühl ganz stark, mitschuldig zu sein. Das hält viele Opfer ab, einen Täter zu benennen. Das zweite ist die Scham. Das Schlimmste für die Figur ist, dass das ganze Dorf weiß, was da passiert. Das führt nicht nur dazu, dass der Rest, der von der Familie übriggeblieben ist, zerbricht, sondern stigmatisiert sie als Opfer. Viele wollen kein Opfer sein. Das dritte ist oft die Angst, dass einem nicht geglaubt wird.
Sie erzählen auch, wie das Dorf die tragische Wahrheit ausblendet, um die heile christliche und (klein)bürgerliche Idylle zu wahren. Warum tut es das?
Hassenfratz: Die Idylle auf dem Land gab es nie. Vielleicht ist mein Film ein Anti-Heimat-Film. Nicht weil er Heimat ablehnt, sondern weil er zeigt, dass die Idylle noch nie wirklich ungebrochen war. Es gab schon immer Dinge, die unter der Oberfläche liegen. Es gab schon immer Doppelmoral. Aber das nicht wahrhaben zu wollen, zu sagen, wir halten doch zusammen, bei uns ist die Welt noch in Ordnung – das zeichnet Heimat aus. Heimat ist weniger der Ort, wo man herkommt, sondern die Gemeinschaft, aus der man kommt, die Menschen, mit denen man aufgewachsen ist.
„Verlorene“ handelt aber auch von der Kraft der Musik, und das obwohl keine Filmmusik vorkommt. Stattdessen hören wir, wie Maria immer wieder an der Orgel spielt. Worin besteht der Zauber dieses Instruments?
Hassenfratz: Es ist ein Instrument, das man im Bauch spüren kann. Die Orgel ist ein Instrument, das ganz stark mit Luft arbeitet. Im Inneren befindet sich ein riesiger Blasebalg. Die Figuren gehen ja auch in die Orgel rein, die ein unglaublicher Klangkörper ist.Die Orgel ist das kraftvollste Instrument, das es gibt.
„Verlorene“ startet am 11.1. um 19 Uhr im Metropol. Es folgt ein Filmgespräch mit Felix Hassenfratz, Produzent Max Frauenknecht sowie den Darstellerinnen Anna Bachmann und Anne Weinknecht. Ab 17.1. bundesweit im Kino.