Schläpfers Neunte — ein Meisterwerk
Martin Schläpfer hat Brahms’ Requiem choreographiert und bescherte dem Publikum mit b.09 einen großen Abend.
Düsseldorf. Der Chefchoreograph der Rheinoper hat sich mit Brahms’ Requiem eines der erhabensten Werke der Musikgeschichte vorgenommen. Dem Namen nach eine Totenmesse, schickt dies Stück den Menschen auf die Spur der Vergänglichkeit, lässt ihn hinabsinken in das schwarze Loch von Tod und Trauer und doch nicht ohne Hoffnung gehen. Der Mensch tastet nach Zuversicht, und das Publikum kann es sich aussuchen, ob er sie bei einem Gott findet oder bei sich selbst.
Brahms begann die Arbeit an seinem Requiem 1865 nach dem Tod der geliebten Mutter. Die leidvolle persönliche Erfahrung verquickte der damals 33-jährige Komponist mit dem urmenschlichen Unbehagen des Gläubigen, vor dem Jüngsten Gericht Rechenschaft ablegen zu müssen. Der Freigeist Brahms rückte ab von dem bedrohlichen Kern der Apokalypse, den die lateinische Totenmesse feiert, und baute aus sieben Sätzen ein Musikstück, das dem Schmerz die Freude gegenüber stellt. Martin Schläpfer knüpft daran an: Sein neues Ballett ist ein Lehrstück über Erlösung.
An diesem Abend hat der Vorhang die Bühne noch nicht ganz freigegeben, als die Tänzer bereits angriffslustig ihr Terrain in Besitz nehmen, zielstrebig laufen sie auf das Publikum zu, und die Direktheit, mit der sie in den Zuschauerraum spähen, verdichtet sich zu einer Botschaft, die keinen Widerspruch duldet: Schaut her und hört uns zu! Typisch Schläpfer, er verlangt volle Konzentration.
Vom ersten Satz an, noch verhalten gespielt, versinkt das Publikum in einer grandios geknüpften Kette aus Sehnsucht, Furcht und dem von Zuspruch erfüllten Gemeinsam-mit-anderen-sein. Tänzer recken sich zum Himmel, hüpfen vor Freude und werden im nächsten Moment brutal auf die Erde zurückgedrängt. Auf klassische Pirouetten verzichtet Schläpfer in seiner Erzählung.
Mit großem Feingefühl verwandelt er prosaische Figuren des Balletts in eindringliche Symbole, wenn etwa eine Tänzerin auf ihrer panischen Suche nach Heilung von anderen aufgehalten und schließlich wie Christus am Kreuz über die Bühne getragen wird. Dass sie am Ende mit beiden Beinen auf der Erde steht und gestärkt vom Trost der anderen ihres Weges zieht, ist ein wunderschönes, weil unpathetisches Happy End.
Die beiden stärksten Bilder des Abends umkreisen die Grundelemente der Romantik — Liebe und Tod. Am Ende des ersten Satzes lösen sich Tänzer aus einer Menge und fallen wie tot zu Boden. Ein Hinabsinken beinahe wie in Zeitlupe, jedoch mit gerade noch so viel Dynamik, dass ein herzzerreißender Akt daraus wird. Das tröstliche Gegenstück reicht Schläpfer dem Publikum in einem hinreißenden Pas de deux mit Jörg Weinöhl und Yuko Kato im vierten Satz. Der von Florian Etti eindrucksvoll gestaltete sakrale Raum wird dieses eine Mal in blaues statt in weißes Licht getaucht und verstärkt die Zartheit des virtuos getanzten Aktes gegenseitiger Liebesbekundung.
Mit der Choreographierung von Brahms’ Requiem gelingt Martin Schläpfer ein meisterhaftes Kunstwerk, das getragen wird von starken Partnern. Von dem detailvertraut-einfühlsamen und lyrischen Dirigat eines Axel Kober, den exzellenten Düsseldorfer Symphonikern, den zumeist überzeugenden Gesangspartien der Solisten Adrian Sampetrean (Bariton) und Sylvia Hamvasi (Sopran) sowie des Opernchors, der, dem Chor einer Kirche gleich, auf halber Höhe über dem Bühnenboden schwebt. Das Publikum feierte Schläpfers Ballett begeistert und honorierte seine Arbeit mit stehenden Ovationen.