Lesung Walsers großes Thema bleibt die Liebe

Martin Walser las im Central aus seinem jüngsten Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Seine Augenbrauen sehen aus wie dichte weiße Hecken. Doch Martin Walser behält den Durchblick. Im Central, der Ausweichstätte des Düsseldorfer Schauspielhauses, las der deutsche Schriftsteller, der in diesem Jahr 90 Jahre alt wurde, auf Einladung der Literaturbuchhandlung im Heine-Haus eine Stunde lang Kapitel aus seinem neusten Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Danach schloss sich ein ebenso langes Interview mit dem WDR3-Moderator David Eisermann an.

Walsers Gang zum Rednerpult wirkt etwas beschwerlich, doch dort erst einmal angekommen, ist er imstande geistige Pirouetten zu drehen. Er zeigt dabei auch keinerlei Ermüdungserscheinungen. Und sein jüngster Roman leuchtet vor gedanklicher Helligkeit. Unterdessen gleicht er mehr einem Essayband als einer großen Erzählung.

Das Buch wirkt autobiografisch, wie so Vieles in der Prosa großer Schriftsteller. Zunächst einmal klärt Walser das Publikum im voll besetzten großen Saal des Centrals über die Bedeutung des Wortes „Rank“ auf. „Rank heißt Kurve“, sagt Walser. In seiner Heimat am Bodensee sei dieser Begriff vollkommen gebräuchlich gewesen, weswegen ihm „Kurve“ immer wie ein Fremdwort erscheine.

Die Lesung entwickelte sich sodann zu einem schönen Sammelsurium von Gedankensplittern, Geistesblitzen und anregenden Sentenzen. Die Zeit der großen Theorien mit ihren „Extra-Erlösungsversprechen“ sei heute vorbei, sagt Walser im Tonfall spöttischer Erleichterung und bezeichnet deren Verbreitung noch bissig als „Wahrheits-Gewerbe“. Von Utopien habe er sich gelöst, was ein Gewinn für ihn sei. „Seitdem ich utopielos sein wollte, fehlte mir nichts mehr.“

Walsers großes Thema bleibt die Liebe. Zwei Menschen gleichzeitig zu lieben halte er für lebensnah und natürlich. Sie sei ja beiden Geliebten gegenüber wahrhaftig.

Jedoch wisse er um den damit verbundenen, zweifelhaften gesellschaftlichen Ruf: „Dass es zweierlei Liebe geben kann, ist dem geltenden Urteil fremd.“

Das Gespräch mit dem Moderator entwickelt sich langsam und holprig. Gleich mit seiner ersten Frage tritt Eisermann ins Fettnäpfchen. Denn die Einstiegsfrage bezieht sich auf das Motiv „Abschied“.

Walser entrüstet: „Wie kommen Sie auf Verabschieden?“ Und die Frage nach dem Ursprung der Sentenzen wird ironisch beantwortet: „Ich weiß nicht, wie es zu diesen Sätzen kommt; meine rechte Hand schreibt, und ich schaue zu.“ Woher er die Kraft nehme, wollte Eisermann noch wissen. Walser: „Kraft? Ich lebe von Schwäche.“

Walsers Worte besitzen die Frische des Freigeistes, der ohne vorgestanzte Phrasen auskommt. Damit gleicht der 90-Jährige einem Kind, das versucht auf ganz eigene Faust die Welt zu entdecken. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich immer weniger erwachsen war als Andere.“ Man könne ziemlich alt werden ohne erwachsen zu werden.

Zur Sprache kommt auch noch mal der Skandal von 1998, als Walser in der Frankfurter Paulskirche sagte, Auschwitz werde instrumentalisiert.

Heute bereue er die Formulierung, weil sie zu dem Missverständnis führe, Juden solle etwas von ihren berechtigten Ansprüchen genommen werden. Darum sei es ihm aber nicht gegangen, sondern um eine Kritik an bestimmten Kollegen.

Angesichts des vollendeten Romans und des hohen Alters ans Aufhören zu denken, komme ihm nicht in den Sinn, sagt Walser. Zu einem solchen Denken gehöre eine Erwachsenheit, die ihm nicht zueigen sei. Aus dem Stegreif erfand er sogar noch einen neuen Buchtitel: „Brief an die unbekannte Geliebte“.