Interview „In der Nacht war ich völlig aus dem Häuschen“

Düsseldorf · Interview Oberbürgermeister Thomas Geisel erinnert sich an die Wende und seine spannende Zeit bei der Volkskammer der DDR und der Treuhandanstalt.

Oberbürgermeister Thomas Geisel heute. 

Foto: ja/Gstetenbauer

Herr Geisel, was haben Sie empfunden, als vor 30 Jahren in Berlin die Mauer fiel?

Geisel: Obwohl ich keinerlei familiäre Bindungen in den Osten hatte, war ich von Anfang an ein großer Freund der Wiedervereinigung, was damals trotz Kurt Schumacher und Willy Brandt in der SPD nicht selbstverständlich war. Im Studium war mir erstmals in einem Seminar zur Deutschlandpolitik nach 1949 klar geworden, dass es CDU-Bundeskanzler Adenauer war, der von der deutschen Einheit nichts wissen wollte. Gar nichts konnte ich mit der DDR anfangen, ich fand dieses autoritäre Spießer-Regime, das seine eigenen Bürger schikanierte und einsperrte, immer schrecklich. Ich habe das mal am Bahnhof Friedrichstraße erlebt, als eine Gruppe von Ost-Berliner Senioren von einem Besuch in West-Berlin zurückkehrte und von den Grenzern übel angeschnauzt wurde.

Wie haben sie den 9. November 1989 erlebt?

Geisel: Ich studierte in Freiburg und saß an dem Abend mit zwei Kommilitonen in der Küche unserer WG. Wir haben Fernsehen geschaut und die Bilder von der Maueröffnung gesehen. Danach war ich völlig aus dem Häuschen. Ein Cousin lebte in West-Berlin, er hat in der Nacht wirklich auf der Mauer getanzt, darum hab ich ihn beneidet. Aber direkt am ersten Wochenende bin ich mit dem Bus nach Berlin gefahren.

Und dann haben Sie für die Volkskammer der DDR gearbeitet. Wie kam es dazu?

Geisel: Nun, ein Freund war Büroleiter von SPD-Fraktionschef Richard Schröder geworden und fragte mich im April 1990, ob ich nicht Lust hätte, für die SPD-Fraktion in der ersten frei gewählten Volkskammer zu arbeiten. Die Verhandlungen zum Einigungsvertrag hatten begonnen und er sagte: Jeder, der etwas von Jura versteht, wird jetzt hier gebraucht. Deshalb fuhr ich, unmittelbar nachdem ich mein erstes juristisches Examen in der Tasche hatte, mit leichtem Gepäck nach Berlin und war noch am selben Tag eingestellt als Referent. Ich weiß noch, dass mein erstes Monatsgehalt 1500 D-Mark betragen hat. 

Wie haben Sie die Verhandlungen in der Politik erlebt?

Geisel: Es war eine sehr intensive Zeit mit langen, harten Debatten darüber, wie es weitergehen sollte – auch innerhalb der SPD. Hinzu kamen interne Querelen, denken Sie nur an Ibrahim Böhme, der als Fraktionschef zurücktreten musste, als seine Stasi-Tätigkeit bekannt wurde. Bei den Verhandlungen über Grundlagen des Einigungsvertrages hatte ich mir meistens den „Ossi-Hut“ aufgesetzt und darum gerungen, vom Westen nicht über den Tisch gezogen zu werden. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen: Ihr habt ein Druckmittel, ihr könnt als DDR jederzeit einfach der Bundesrepublik beitreten, das garantiert das Grundgesetz. Damit genießt ihr alle verfassungsmäßigen Rechte – auch das auf Steuerverteilung.

Doch der Westen dominierte in den Verhandlungen.

Geisel: Ja, es gab da eine gewaltige Asymmetrie, schon was das juristische Wissen betraf. Ich habe damals oft beim Rauchen vor dem Gebäude Gregor Gysi getroffen, er war einer der wenigen, die wirklich Ahnung von westdeutschem Recht hatten.

Und dann waren Sie auch noch bei der Treuhandanstalt. Die ist bis heute im Osten in Verruf.

Geisel: Ich war während meines Studiums in Harvard für ein Semester in Bonn und habe dort eine Arbeit über die Treuhandanstalt geschrieben, so entstand der Kontakt. Ende 1994 kam dann die Anfrage der Treuhand, die einen Referenten für die Buna-Privatisierung suchte. Ich wurde sofort ins kalte Wasser geworfen, war bald als Abteilungsleiter in einem Team von 25 Leuten vor allem befasst mit der Großchemie im Dreieck Leuna-Buna-Bitterfeld, ein milliardenschwerer Brocken. In der Tat habe auch ich da zum Teil den Wilden Osten erlebt und außer unheimlich engagierten Menschen auch Leute kennengelernt, denen jegliches Gemeinwohl-Ethos abging. Ja, da haben sich einige die Taschen richtig voll gemacht. Aber auch in der Politik gab es einen zum Teil unglaublichen Opportunismus. Ich bin stolz, dass ich nie ein unsittliches Angebot bekommen habe. Schon allein dass man denken könnte, ich sei dafür empfänglich, hätte mich getroffen.

Hat die Treuhand die DDR einfach plattgemacht?

Geisel: So weit würde ich nicht gehen. Aber es blieb oft nebulös, warum welcher Bereich noch mit immensen Steuergeldern am Leben gehalten wurde und andere nicht. Was fehlte, war ein klares Kosten-Nutzen-Konzept. Eine eigenständige ostdeutsche Industrie gab es nicht mehr, die DDR war bestenfalls die verlängerte Werkbank des Westens ohne eigene größere Unternehmen, die Vermögenspositionen konzentrierten sich im Westen Damit wurde die Saat gelegt für die Probleme des Ostens, die bis heute bestehen.