Stadt-Teilchen Als es im Düsseldorf der 1960er Jahre noch schwarze Pädagogen gab

Düsseldorf · Unser Kolumnist erinnert sich an eine in seiner Wahrnehmung hässliche Schulzeit am Geschwister-Scholl-Gymnasium in der Redinghovenstraße in Bilk.

Das Geschwister-Scholl-Gymnasium so, wie es heute an der Redinghovenstraße steht. Foto: Judith Michaelis

Foto: Michaelis, Judith (JM)

Kürzlich bin ich durch die Redinghovenstraße zum Volksgarten gefahren. Einfach so. Erst am Ende meiner Fahrt ist mir aufgefallen, dass ich einfach so durch die Redinghovenstraße gefahren bin. Eigentlich nichts Besonderes. Wahrscheinlich fahren jeden Tag Tausende Menschen durch die Redinghovenstraße in Bilk, einfach so. Sie fahren rein, und dann fahren sie am anderen Ende wieder raus.

Dass ich solch ein Gedöns um meine Einfach-so-Durchfahrt der Redinghovenstraße mache, liegt natürlich an meiner Vergangenheit, meiner Zeit als Heranwachsender. Die spielte ein paar Jahre in der Redinghovenstraße, ein paar sehr lange Jahre. Ewige Jahre.

Diese Jahre waren kein Spaß, sie waren vielmehr reine Leidenszeit. Zwischen 1966 und 1973 musste ich täglich in die Redinghovenstraße, denn ich ging dort zur Schule. Ich war Schüler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Das trägt einen honorigen Namen, war Ende der Sechziger Jahre für mich aber wie die verschärfte Version der Hölle. Ich habe dort so ziemlich alles an Demütigung erlebt, was man als juveniler Schlacks so an Demütigung erleben konnte.

Genau deshalb verwunderte es mich kürzlich derart, dass ich einfach so durch die Redinghovenstraße gefahren bin. Einfach so. Ohne zu schießen, also ohne meine rechte Hand vom Lenkrad zu nehmen und mit ausgestrecktem Zeigefinger und aufgestelltem Daumen auf das Schulgebäude zu schießen. Ich unterstrich meine Attacken jedes Mal mit ein paar explosionsartigen Geräuschen. Puch, puch, puch. Nimm das, Schule!

Nun sind ins Opa-Alter gereifte Erwachsene, die mit „Puch, puch, puch“ durch die Redinghovenstraße fahren, nichts Alltägliches. Sie bringen schnell die Frage aufs Tapet, ob ihnen nicht eine von diesen schicken Jacken gut stehen könnte, die besorgte Pfleger hinten zuknöpfen. Aber nein, so einer bin ich nicht. Nur eben sehr lange sehr traumatisiert.

Man muss dazu wissen, dass in den späten Sechzigern Jahren zwei Dinge aufeinanderprallten, die nicht zueinander passten. Da war auf der einen Seite ich, ein nur der Körperlänge nach aufstrebender Schlacks, der nicht wusste, wohin mit sich, der vor allem an nichts Interesse hatte außer an der Frage, wie man es schafft, gegen den Willen der Eltern die Haare lang wachsen zu lassen und vielleicht ein bisschen so auszusehen wie die Beatles oder die Stones auf dem Cover der „Bravo“.

Oder wie Dave Dee. Der Anführer der Band Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich war damals auch auf dem Cover der „Bravo“. Er trug ein Hemd in einem ganz besonderen Blau. Genau so ein Hemd wollte ich auch, und meine Mutter verstand. Sie zog mit mir durch die ganze Stadt, in jeden Textilladen, immer die „Bravo“ in der Hand. „Haben Sie so ein Hemd“, fragten wir, und immer lautete die Antwort nein. Doch ganz am Schluss bei C&A auf der Schadowstraße wurden wir fündig. Da gab es ein Dave-Dee-Hemd. Das trug ich am nächsten Morgen in der Schule, und schon der erste Klassenkamerad, der mir begegnete, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Booah, ein Dave-Dee-Hemd“, sagte er und bescherte mir damit den schönsten Tag meiner Scholl-Geschichte.

Die anderen Tage waren dagegen die Hölle, denn auf den pickeligen Jungen mit dem Dave-Dee-Hemd traf eine Lehrerschaft, die in großen Teilen noch durchwirkt war von schwarzer Pädagogik. Ich bin heute nicht wirklich davon überzeugt, dass sich damals alle Lehrer vom Gedankengut der Nazizeit verabschiedet hatten. Es gab da einige, in deren Seelen man nicht blicken mochte. Natürlich waren genau jene meine Lehrer.

WZ-Kolumnist Hans Hoff

Foto: NN

Ständig wurde ich vor versammelter Klasse wegen meiner vermasselten Aufsätze runtergeputzt, wurde mir bescheinigt, dass aus mir nie etwas werden würde, dass ich bestimmt mal im Zuchthaus mein Ende finden werde. Mit dem Gespür einer Giftschlange, die das verängstigte Kaninchen erspürt, merkten diese Lehrer, dass sich an mir ein Exempel statuieren ließ. Faulheit in Reinkultur vorführen, das wollten sie, holten mich nach vorne, stellten mich nach allen gemeinen Regeln bloß und schickten mich gedemütigt wieder in die letzte Bank, wo traditionell jene Versager saßen, die sich mehr um ihre Haarlänge kümmerten als um Lehrinhalte.

Körperliche Gewalt gegen Schüler war damals an der Tagesordnung. Wenn der Englischlehrer eine Vokabel von mir wissen wollte und ich sie nicht gleich parat hatte, ergriff er meine feinen Härchen neben dem Ohr und zog mich daran langsam in die Senkrechte. Er ergötzte sich an meinem Nichtwissen und ließ erst von mir ab, wenn ich so laut aufjaulte, dass man es draußen auf dem Gang hätte hören können.

Als ich im Sportunterricht einmal mit einem Freund raufte, beendete der Sportlehrer die Auseinandersetzung kurzerhand mit zwei Faustschlägen in die Magengruben. Ich sehe mich heute noch neben meinem Kumpel auf dem Turnhallenboden nach Luft ringen. Inzwischen würde solch ein Lehrer wohl die nächste Pause nicht mehr im Schuldienst erleben, aber in den Sechzigern war so etwas der Normalfall. Selten standen der Geist der Namensgeber und das, was es in der nach ihnen benannten Lehranstalt zu ertragen galt, in krasserem Widerspruch.

Als ich bei einer Schulchoraufführung mal während einer langweiligen Pianostelle in meinen Taschen wühlte, purzelte ein dort verstautes Taschenlampenglas heraus, fiel auf den Boden, um über die ganze Bühne zu kullern und erst nach endlosen lautstarken Drehungen vor dem Pult des Dirigenten zur Ruhe zu kommen. Ich handelte mir nicht nur einen sehr giftigen Blick ein, sondern sah mich nach der Vorstellung auch vor die Alternative gestellt: Ohrfeige oder Arrest? Ich wählte die Ohrfeige, und die hatte es in sich.

Als ich meiner Mutter daheim die immer noch rote Wange präsentierte und Unterstützung erhoffte, bekam ich die nächste Abreibung. „Da wird der Herr Oberstudienrat schon seinen Grund gehabt haben“, sagte meine Mutter. Das nehme ich ihr heute noch übel.

Oft habe ich mich in den vielen Jahren danach gefragt, wie so etwas passieren konnte an einer Schule, die den Namen von Sophie und Hans Scholl trägt. Ich blieb ratlos. Ich merkte damals zwar, dass sich langsam etwas besserte, denn immer mehr junge Lehrer kamen an die Schule. Leider wurden sie vornehmlich in jenen Klassen eingesetzt, in denen schon Mädchen das knorrig-harte Bild der einstigen Knabenschule weicher werden ließen.

Ich blieb sitzen. Wegen Latein und Deutsch. Danach rechnete ich aus, dass ich noch dreimal sitzen bleiben müsste, um in eine Klasse mit Mädchen und besseren Lehrern zu kommen. Der Weg dahin erschien mir zu lang, weshalb ich irgendwann aufgab und alles verweigerte. Ich erinnere mich noch, wie mir ein Lehrer aus der alten Garde, dessen Herz aber nicht völlig versteinert schien, aus seiner Sicht sicher fürsorglich gemeinte Worte zum Abschied mitgab: „Es kann nicht jeder Abitur haben.“

Ich wurde schließlich auf einer Fachoberschule glücklich und hörte in der Folge mit Staunen, dass sich bei Scholl über die Jahre alles besserte. Die schwarzen Pädagogen gerieten in die Minderzahl und wurden irgendwann pensioniert. Meinen Hass hat das über viele Jahre nicht gemildert. Jedes Mal, wenn ich durch die Redinghovenstraße musste, habe ich sie erschossen, diese Folterer im Schuldienst. Demütigung kann sehr tief sitzen.

Ich denke, dass alle, die mich einst gequält haben, inzwischen tot sind. Vielleicht erklärt das meinen Frieden, den ich inzwischen mit meiner alten Schule geschlossen habe. Das Gebäude kann ja nichts dafür, und jene, die heute dort lehren und lernen schon gar nicht. Trotzdem habe ich das Gebäude der Schule nie wieder betreten.

Aber die Redinghovenstraße, die ist jetzt wieder sauber. Man kann sie ungefährdet durchfahren. Die Schießereien haben aufgehört.