„Von Luthers musikalischer Tätigkeit weiß man wenig“

Der in Düsseldorf lebende Pianist Lev Vinocour wirkt mit im halb gespielten Dokumentarfilm „Luthers Lieder“.

Foto: Melanie Zanin

Der russische Pianist Lev Vinocour ist ein vitaler Tastenvirtuose. Aber er interessiert sich auch für die kulturellen Hintergründe bedeutender Musikwerke. Als Experte wird er regelmäßig von verschiedenen Fernsehsendern konsultiert. Die Sendeanstalten ZDF, Arte und 3Sat nahmen Musiksendungen mit seiner musikwissenschaftlichen Unterstützung auf. Vinocours nunmehr neunte Mitwirkung prägt den halb gespielten Dokumentarfilm „Luthers Lieder“ mit Schauspieler Ben Becker als sichtbaren Geschichtslehrer. Doch die Texte stammen teils von Vinocour, teils vom Regisseur Günther Klein.

Der wissensdurstige und belesene Pianist hat für seine Recherche Bücher gewälzt, sich teils kostbare antike Druckerzeugnisse gekauft, um dem Reformator und Musikliebhaber auf die Spur zu kommen. Ja, er hat sogar extra das historische Musikinstrument Laute gelernt, um im Film einen Sänger darauf zu begleiten. Vinocour taucht mehrmals im Film auf, sowohl als Musikhistoriker als auch als ausübender Musiker auf verschiedenen Instrumenten — von Laute über Regal und Tafelklavier bis zum modernen Konzertflügel, auf dem er beispielsweise Richard Wagners Kaisermarsch spielt, der auf Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ basiert.

„Das Volk singt sich in die Ketzer-Kirche hinein“, sagt Vinocour im Film und schildert damit den Argwohn der konservativ-katholischen Kirchenleute Luther und seinen Liedern gegenüber. Zur Filmidee sei es gekommen, da viele Hintergründe der Luther-Lieder noch im Dunkeln schlummern, erklärt Vinocour im Gespräch mit unserer Zeitung. „Von Luthers musikalischer Tätigkeit kennt man wenig.“ Um manche Lieder hätten sich gar falsche Legenden gerankt.

Heinrich Heines Sentenz „Ein feste Burg“ sei das Kampflied der Reformation gewesen, habe zu einem Missverständnis geführt. „Es war vielmehr ein Trostlied in Zeiten der Pest“, stellt der Musikexperte klar, der unter anderem mit dem unlängst verstorbenen Musikwissenschaftler Prof. Dr. Detlef Altenburg (Ordinarius an der Uni Regensburg) in reger Korrespondenz stand.

Musik sei das beste Mittel gegen den Teufel, habe Luther geschrieben und weiter: „Musik ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen.“ Bei kritischer Betrachtung sei Luthers Verdienst um die Religion selbst recht gering gewesen, betont der Musiker, der den Dingen gerne ganz auf den Grund geht. Um Kultur, Sprache und Wissenschaft habe sich Luther aber unendlich verdient gemacht. „Die bedeutendsten deutschen Wissenschaftler stammen aus den reformierten Regionen“, sagt Vinocour. Und das sei kein Wunder.

Zwischen Aristoteles und Luther sei es nur gestattet gewesen zu beobachten, nicht zu experimentieren. Mit der Reformation seien Dinge wie das Sezieren von Leichen plötzlich erlaubt gewesen. Das katholische Rheinland habe nicht gerade die größten Wissenschaftler des Jahrhunderts hervorgebracht. Die Hugenotten (Französisch für die schweizerischen „Eidgenossen“) hätten die Reformation bis nach Wesel getragen. Und dort sei eine wissenschaftliche Instanz wie Andreas Vesalius (Andreas von Wesel), dem Begründer der neuzeitlichen Anatomie, hervorgegangen.

Im Film kommen aber hauptsächlich Luthers musikalische Meriten zur Sprache. Gesendet wird der zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm rangierende Beitrag am morgigen Sonntag, 29. Oktober, 23.35 Uhr auf Arte. Er ist bis zum 27. Januar auch online verfügbar.

arte.tv