Nach dem Fall Kitzbühel Frauenmorde – So groß ist das Problem „Femizid“ in Deutschland
Düsseldorf · Der Fall Kitzbühel wirft ein Schlaglicht auf das Thema auch in Deutschland. Terre des Femmes fordert einen eigenen Straftatbestand „Femizid“.
Der Fall Kitzbühel, wo ein junger Mann seine Ex-Freundin, deren Eltern, Bruder sowie neuen Partner erschoss, wühlt die Menschen auf. Für Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, ist er aber mehr als ein grausamer Einzelfall. Er wirft ein Schlaglicht auf ein Problemfeld, das auch und gerade in Deutschland mehr als ein randständiges ist. Jeden zweiten bis dritten Tag stirbt hier laut Bundesregierung eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Stolle fordert wie andere Frauenrechtler, dass der Femizid – also Mord an Frauen, weil sie Frauen sind – in Deutschland ein eigener Straftatbestand wird.
Das Bundeskriminalamt wertet die Partnerschaftsgewalt in Deutschland statistisch aus. Das aktuellste Lagebild bezieht sich auf 2017, Zahlen für das vergangene Jahr sollen Ende November veröffentlicht werden. Demnach wurden 2017 113.965 Frauen Opfer partnerschaftlicher Gewalt, 147 Frauen starben. „Das ist für ein modernes Land wie Deutschland eine unvorstellbare Größenordnung“, sagte Bundesfrauenministerin Franziska Giffey seinerzeit bei der Präsentation der Zahlen.
Glaubt man der Professorin Kristina Wolff, hat sich das Problem aktuell sogar verschärft: Seit Anfang des Jahres zählt sie brutale Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen aus der Presse. In den ersten drei Wochen des Jahres seien es allein 14 Tötungsdelikte gewesen, in den ersten neun Monaten des Jahres 131 tote Frauen und Mädchen. So schreibt sie es in den Informationen zu ihrer Online-Petition „Stoppt das Töten von Frauen“ mit dem Hashtag „#saveXX, in der sie mehr Engagement der Politik zum Schutz von Frauen fordert. Knapp 68.000 Menschen haben diese bislang unterzeichnet.
Wolff fordert, „machistische Gewalt“ als Straftatbestand einzuführen. In diese Richtung gehen auch die Wünsche von Terre des Femmes an die Politik: Mexiko und einige südamerikanischen Länder hätten den Femizid bereits explizit ins Gesetz aufgenommen. „Das kann man sich dort abgucken“, sagt Geschäftsführerin Stolle. Damit könne es auch nicht mehr passieren, dass ein Mann, der eine Frau mit zig Messerstichen niedermetzele, wegen Totschlags verurteilt werde wie bisher oft. „Femizid ist ganz klar Mord“, so Stolle. Und das sei angesichts der bisherigen juristischen Folgen vieler solcher Gewalttaten auch notwendig: „Da haben wir viel Nachholbedarf.“
Bundesfrauenministerium will Hilfesystem weiterentwickeln
Wie groß das Problem in Deutschland ist, zeigt laut Stolle eine Europastudie aus dem Jahr 2016, bei der Deutschland bei den vorsätzlich getöteten Frauen pro 100.000 Einwohner den sechsten Platz innerhalb der EU-Länder belege – hinter Lettland, Litauen, Ungarn, Estland und Zypern. Frankreich hingegen, das in Bezug auf Erwerbstätigkeit und Selbstbestimmtheit der Frauen viel weiter sei, liege weit hinten. Stolle sieht in Deutschland noch „tief verankerte patriarchalische Strukturen“, die das Töten von Frauen begünstigten, wenn ein „Mann in seinem Mannsein verletzt“ werde.
Dass „Probleme der Geschlechtergerechtigkeit“ in bestimmtem Maße auch mit der Einwanderung aus anderen Kulturkreisen wachsen – etwa Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung – sieht man bei Terre des Femmes durchaus. Aber: Laut BKA-Lagebild sind bei der Partnerschaftsgewalt mehr als zwei Drittel der Täter Deutsche. Stolle stört deshalb umso mehr, wenn bei Frauentötungen durch muslimische Täter von „Ehrenmorden“ die Rede ist, bei deutschen Tätern aber von „Beziehungsdramen“. „Wir werden der Tat so nicht gerecht“, sagt sie. Auch deshalb sei der Femizid als Straftatbestand so wichtig: um klarzustellen, dass der Tod einer Frau nicht schicksalhaft war, nicht in ihrer Biografie verwurzelt, sondern ein schrecklicher Gewaltakt.
Und doch, sagt die Expertin: Warnzeichen gibt es häufig. „Oft ist es eine Eskalation von Gewalt“, sagt sie. Der gewaltsame Tod der Frau „das Ende der Spirale“. Deshalb sei es wichtig, noch mehr für die Aufklärung zu tun und Frauen eindeutig klar zu machen: Der Mann, der schlägt, ändert sich in der Regel nicht. Zudem müsse der Schutz von Frauen, die Angst vor ihren Ex-Partnern haben, verbessert werden. „Wir haben ganz gute Gesetze und Verwaltungsvorschriften“, sagt Stolle. In der Praxis hapere es aber oft an Kapazitäten.
Katja Grieger vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen sieht die Trennungsphase als besonderen Risikopunkt, weil die Frau versuche, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Es handelt sich unserer Erfahrung nach um ein Problem von männlichem Dominanzverhalten beziehungsweise Besitzansprüchen.“ Gemäß der seit 2018 auch in Deutschland geltenden Istanbul-Konvention müsse es flächendeckend Gefährdungseinschätzungen und -management für diese Fälle geben. „Das steckt aber in Deutschland noch in den Kinderschuhen“, so Grieger.
Das Bundesfrauenministerium verweist auf Anfrage auf bundesweit etwa 350 Frauenhäuser und rund 40 Zufluchtswohnungen, die jährlich bis zu 17.000 Frauen, auch mit Kindern, aufnehmen könnten. Die Infrastruktur sei Ländersache. „Dennoch nimmt Ministerin Giffey Berichte aus der Praxis sehr ernst, wonach in einigen Regionen die Zahl der Schutzplätze in Frauenhäusern nicht ausreicht“, so ein Sprecher. Mit dem Bundesförderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ solle das Hilfesystem zudem weiterentwickelt werden. In diesem Jahr stünden 6,1 Millionen Euro zur Verfügung, 2020 nach Planung der Bundesregierung 35 Millionen Euro. Im November soll eine Kampagne starten, die die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert.