Das Leid der Eltern prägte auch ihre Jugend: die Kinder der Überlebenden  der Shoah. Die in Krefeld aufgewachsene Ilana Grallert ist eine von ihnen „Hätte ich doch nur gefragt“

KREFELD/NEW HAMPSHIRE · „4.44-5.5.45 KL Mauthausen, befr.“ steht auf der weißen Karteikarte. Darüber in der gleichen unregelmäßigen Schreibmaschinenschrift „KOHN Harry.“ Ilana Grallert weiß: Am 5. Mai 1945 wurde ihr Vater Harry Kohn aus dem Konzentrationslager Mauthausen befreit.

 Ilana Grallert mit ihrem Vater Harry Kohn Anfang der 60er Jahre in Krefeld.

Ilana Grallert mit ihrem Vater Harry Kohn Anfang der 60er Jahre in Krefeld.

Foto: Gampert

Sie weiß, er war 13 Monate dort.  Sie weiß, dass in dem KZ bei Linz 200 000 Menschen  inhaftiert waren  – dass die Hälfte von ihnen nicht überlebt hat. Sie hat recherchiert. Sie  hat gelesen über die  Zwangsarbeit in den Steinbrüchen, die Gaskammer, die Misshandlungen, den Hunger und die Erniedrigungen. Was genau ihr Vater in Mauthausen erlitten hat? Ob auch er  Steine über die berüchtigte, steile  „Todesstiege“ geschleppt hat? Sie weiß es nicht, sie wird es nicht erfahren.

In der Familie wurde über den
Holocaust geschwiegen

„Wir haben in der Familie niemals über die Shoah gesprochen“, sagt Ilana Grallert. Als Ilana Krohn wurde sie in Israel geboren und wuchs dann in Krefeld auf, besuchte dort das Gymnasium Horkesgath. Als der Vater mit seinem Handelsunternehmen erfolgreicher wurde, zog die Familie in ein Haus in Willich-Schiefbahn. Heute lebt Ilana Grallert im US-Bundesstaat New Hampshire.

Auch wenn der Massenmord an den Juden in der Familie kein Thema war, so sagt sie doch auch: „Ich kann mich auch nicht erinnern, nicht vom Holocaust gewusst zu haben.“ Das Leid, das Leben und das Schweigen des Vaters darüber haben auch das Leben der heute 59-Jährigen geprägt. Das Schicksal der Kinder von Holocaust-Opfern.

„Es hieß zu Hause immer nur: Reg’ Papa nicht auf“, erinnert sich Ilana Grallert. „Er regt sich so schnell auf, wegen dem, was er im Krieg erlebt hat.“ Im Krieg? Es fielen nicht einmal die Worte „Holocaust“ oder „Shoah“. Dabei war die Judenverfolgung, nicht der Krieg, der Grund für das Leiden des 1920 bei Sibiu/Hermannstadt im heutigen Rumänien geborenen Herschel (Harry) Kohn.

Schweigen über den Holocaust – und unkontrollierbare Wutausbrüche wegen Kleinigkeiten. „Ich habe mir den Namen meines ersten Freundes mit Kuli auf den Unterarm geschrieben“, erinnert sich Ilana Grallert.   „Mein Vater ist ausgerastet...  Dabei wurden die Häftlingsnummern in Mauthausen gar nicht eintätowiert.“ Das geschah nur in Auschwitz.

„Jede Dokumentation, jeden Film über den Holocaust“ habe ihr Vater sich angesehen – auch mit ihr zusammen. „Aber geredet  haben wir nie darüber.“ Das wenige, was sie über die Geschichte ihres Vaters wisse, habe die Mutter erzählt. „Vielleicht wollten sie einfach nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Sie wollten sich eine Zukunft aufbauen.“

Ihre Eltern lernten sich nach Kriegsende in Düsseldorf kennen

Das ungleiche Paar – der staatenlose Jude und die katholische Kleinbauerntochter aus der Eifel – lernte sich kurz nach Kriegsende in einem zur Notunterkunft umfunktionierten ehemaligen Luftschutzbunker in Düsseldorf kennen. Er gerade mit Tuberkulose aus dem Konzentrationslager befreit, sie nach hektischer Flucht von West nach Ost und zurück mit ihrer Familie in Düsseldorf gestrandet.

„A total mismatch – die passten überhaupt nicht zusammen“, sagt Ilana Grallert, die nach Stationen in Münster und Großbritannien nun schon seit mehr als 30 Jahren in den USA lebt. Und sie meint damit nicht, dass sich ein eben befreiter KZ-Überlebender ausgerechnet in eine junge Deutsche verliebt, sie 1947 heiratet  und mit ihr auswandern will – nach „Norwegen, Palästina oder USA“, wie sie es in die Fragebögen eintragen. Sie meint die Charaktere.  

Es ist ein turbulentes Leben, auch eine turbulente Ehe. Tel Aviv, Jerusalem, Tel Aviv, Krefeld, Tel Aviv, Krefeld... Zwischen Israel, wo Ilana Grallert und ihre zwei älteren Geschwister geboren werden und Deutschland, wo  „mein Vater glaubte,  einfacher Geld verdienen zu können“, geht es hin- und her.  

Und Harry Kohn hat schließlich Erfolg als Kaufmann. „Geld zu verdienen, war meinem Vater sehr wichtig“, sagt Ilana Grallert.  Weil Geld Sicherheit für den Fall der Fälle bedeutet?  Weil das schicke Auto und das großzügige Trinkgeld  auch Anerkennung bringt für den „Ausländer“ mit dem  schweren Akzent, dem die Nazis das Lebensrecht absprachen,  den sie durch Zwangsarbeit umbringen wollten? „Es kann gut sein, dass es darum ging“, sagt Ilana Grallert. „Aber ich weiß es nicht, ich kann nur spekulieren.“

„Darüber“ wurde nicht geredet. „Ich habe auch nicht gefragt“, sagt Ilana Grallert, „ich war froh, wenn mein Vater nicht zu Hause war, wir nicht immerzu Rücksicht nehmen mussten.“  Sie ist 17 Jahre alt, noch Schülerin, als sie auszieht.  

Ihr Vater erkrankt  1986 an Krebs. „Schnell! Sie kommen, sie kommen, wir müssen raus“, schreit er in der Verwirrung nach den Bestrahlungen. Die alte Angst ist wieder da. Harry Kohn stirbt nach kurzer Krankheit.

Was Harry Kohn erlebt, was er erlitten hat, ist „in Luft aufgelöst“, wie es  Ilana Grallert formuliert. Verloren. „Hätte   ich doch nur gefragt.“