16 000 unbesetzte Fachkraftstellen
Die IHK Mittlerer Niederrhein schlägt Alarm. Bis 2021 könnten es fast 40 000 sein. Die Kammer wirbt für das duale System.
Krefeld. Die IHK Mittlerer Niederrhein hat den Vertrag mit ihrem Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz grad bis 2027 verlängert. Konsequent scheint’s, denn der 50-Jährige hat eine Menge vor. Im September starten die vier Arbeitsgruppen in das IHK-finanzierte Projekt „Aktionsplan Wirtschaft“, das Bündnis „Zukunft durch Industrie“ ist auf dem Weg, Krefeld soll wieder an Bedeutung auf der Industrielandkarte gewinnen. Dazu gehört die große Strategie genauso wie das tägliche Brot: die Ausbildung. Dem IHK-Boss und seiner Geschäftsführerin Aus- und Weiterbildung, Petra Pigerl-Radtke, bereitet die Entwicklung große Sorge. Dem aktuellen Ausbildungsplus von 1,7 Prozent steht der Trend von immer weniger Schulabgängern und immer mehr Akademisierung entgegen.
Herr Steinmetz, gerade hat die IHK eine neue Broschüre herausgebracht, um erneut für die duale Ausbildung zu werben. Was läuft falsch?
Steinmetz: Vieles läuft schon richtig, wir haben jetzt zum 1. August 3442 Ausbildungsstellen besetzt, das macht ein Plus von 1,7 Prozent im Vergleich zu Vorjahr. Aber wir brauchen insgesamt ganz klar eine Trendwende. Es gibt bereits jetzt 16 000 unbesetzte Fachkräftestellen, bis 2021 könnten es 39 000 werden. Immer mehr Schüler machen Abitur mit immer besseren Noten, die meisten studieren, ein Drittel bricht dann ab, und ist anschließend trotzdem fürs Duale System verloren.
Pigerl-Radtke: Hinzu kommt, dass wir sechs Prozent weniger Schulabgänger haben und sich dieser Trend fortsetzt. Aber diese Entwicklung kann auch von jedem Einzelnen als Chance begriffen werden. Deshalb müssen wir noch deutlicher machen, dass sich der Weg in die duale Ausbildung lohnt, der Karriereweg nach dem ersten Abschluss nicht beendet ist. Wer gut ist, kann Fachwirt oder Industriemeister werden und gehaltsmäßig auf Augenhöhe mit Akademikern sein.
Gilt das Motto: weniger Konkurrenz, bessere Chancen?
Pigerl-Radtke: Absolut. Es gibt noch 420 freie Ausbildungsstellen und sogar für das nächste Jahr, also zum 1. August 2019, sind bereits 273 Lehrstellenangebote auf dem Markt. Wer spät dran ist, kann kurzfristig noch im August oder Anfang September auf den Zug springen. Wer sehr früh plant, kann sich bereits für nächstes Jahr seine Wunschausbildungsstelle sichern.
Steinmetz: Die Jugendlichen sind allerdings auch gut beraten, sich nicht nur auf die Top Ten zu bewerben. Bei den kaufmännischen Ausbildungen steht zum Beispiel ganz oben der Kaufmann für Büromanagement, das geht dann über den Verkäufer und den Koch bis zum Automobilkaufmann. Bei den gewerblich-technischen Berufen ist der Industriemechaniker besonders beliebt, gefolgt vom Chemiekanten bis zum Mediengestalter auf Platz zehn. Dann wird es gerade in Ballungsgebieten mitunter schwierig. Darum empfehlen wir insbesondere auch eine räumliche Flexibilität. Es gibt ja in unserem Kammer-Bereich über 200 andere Ausbildungsmöglichkeiten. Wer seinen Traumberuf erlernen will, muss mitunter beweglich sein.
Klingt, als müsse ein junger Mensch nur zupacken. Warum tun es viele nicht?
Steinmetz: Das ist ein vielschichtiges Thema. Zum einen liegt es wie beschrieben an der vorherrschenden falschen Einschätzung, Abiturienten müssten zwangsläufig studieren. Aber auch die Unternehmen machen nicht alles richtig.
Liegt es nicht auch an der Ungewissheit, ob dieser Beruf in der rasenden Digitalisierung in fünf Jahren noch benötigt wird?
Steinmetz: Naja, das glaube ich nicht, denn das ist doch überall so. Schauen Sie sich Ihr eigenes Geschäft an. Die Umstände ändern sich, aber professioneller Journalismus wird immer benötigt.
Und was machen die Unternehmen falsch?
Steinmetz: Was heißt falsch? Sicher gibt es gerade bei kleineren Unternehmen noch Luft nach oben hinsichtlich ihres Selbstmarketings. Und das hat in der derzeitigen konjunkturellen Situation mit vollen Auftragsbüchern nicht zwangsläufig immer die erste Priorität.
Pigerl-Radtke: Also, unsere Fachkräfteberatung und die damit einhergehenden Werbemaßnahmen sind schon zunehmend gefragt. Etwa, wie eine Homepage aussehen muss. Außerdem planen wir derzeit ein Projekt, in dem Azubis in Videos über ihre Ausbildung berichten können. Das wird auf sozialen Medien verbreitet.
Sind die Ansprüche der Firmen zu hoch? Haben zum Beispiel Hauptschüler überhaupt eine Chance?
Pigerl-Radtke: Natürlich. Es gibt viele Firmen, die gucken zunächst mal weniger auf die Noten oder die Erfahrung, dafür auf die Veranlagung und das Engagement. Das ist entscheidend und das kann jeder Bewerber im Vorstellungsgespräch zeigen. Vier Prozent der Azubis haben sogar gar keinen Schulabschluss. Dies ist jetzt kein Plädoyer dafür, es schleifen zu lassen, ganz im Gegenteil. Aber grundsätzlich ist im dualen Ausbildungssystem niemand chancenlos.
Herr Steinmetz, viele Beobachter klagen, dass Krefeld in puncto Infrastruktur und Innovation Nachbarstädten wie Mönchengladbach hinterherhinkt. Wie schaffen Sie den Spagat im Kammerbezirk?
Steinmetz: Wir sehen uns als Initiator von Aktionen und als Treiber.
Anders gefragt: Was stimmt Sie zuversichtlich hinsichtlich Krefelds wirtschaftlicher Entwicklung?
Steinmetz: Wir verspüren eine Aufbruchstimmung in Krefeld, eine positive Stimmung und Entwicklung, der Zuspruch für unseren Aktionsplan Wirtschaft mit einer mehr als gelungenen Auftaktveranstaltung bei Canon macht mich sehr zuversichtlich.
Sie werden die IHK-Geschicke am Mittleren Niederrhein nun bis mindestens 2027 lenken. Was sagen Sie zum Stichwort interkommunales Gewerbegebiet?
Steinmetz: Es ist erfreulich und zudem sehr wichtig, dass Meerbusch einem gemeinsamen Gewerbegebiet nun zugestimmt hat. Das eröffnet neue Kapazitäten.
Entwicklung Chemiepark.
Steinmetz: Natürlich beobachten wir genau, was dort passiert. Es wird entscheidend sein, dass die Rahmenbedingungen für das Projekt derart gestaltet werden, dass der Chemiepark sich weiter entwickeln kann. Das muss unterstützt werden, nicht behindert.
Aktionsplan Wirtschaft.
Steinmetz: Ambitioniert, wichtig und sehr gut angelaufen mit über 120 Teilnehmern in unseren vier Entwicklungsgruppen. Am Ende haben wir viele nützliche Projekte und Aktivitäten, die einander ergänzen. Samt und Seide.
Steinmetz: Der Slogan der Stadt ist mir völlig egal. Er ist nicht Bestandteil unserer Aktivitäten.
Aber Sie haben doch eine Meinung.
Steinmetz: Ganz ehrlich, darüber habe ich mir bislang keine Gedanken gemacht.