Inforeihe Psyche ADHS: Einer, den sie Zappelphilipp nannten

Nie still sitzen, nie den Mund halten können — Otto Ror (57) leidet seit seiner Kindheit an ADHS.

Foto: Andreas Bischof

Krefeld. Otto Ror (Name von der Redaktion geändert) hat es eilig. Er ist auf einer Landstraße unterwegs, Tempo 100 ist erlaubt. Wäre da nicht dieser Wagen, der mit 80 vor ihm her schleicht . . . Ror gibt Gas. 100, 120, 140. Auch der Fahrer im Auto neben ihm beschleunigt, wird immer schneller, lässt ihn nicht vorbei. Mit 160 Stundenkilometern auf dem Tacho gelingt es ihm schließlich zu überholen — dem Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug entgeht Ror nur knapp. An der nächsten Ampel steigt er wutentbrannt aus, läuft zu dem Auto hinter ihm, reißt die Tür auf und brüllt den verdutzten Fahrer an: „Wenn du noch einmal versuchst, mich umzubringen, dann passiert hier ein Unglück!“

„Jetzt würde mich das Video interessieren, dass es von dieser Situation leider nicht gibt“, sagt Ror. „Heute glaube ich, der Mann wollte mir überhaupt nichts. Ich habe überreagiert.“ Dieses wiederkehrende Gefühl, falsch und ungerecht behandelt zu werden, Wutausbrüche, Jähzorn — Otto Ror erkennt sich darin nur zu gut wieder. Heute weiß er: „Es sind klassische Symptome von ADHS.“

Otto Ror, ADHS-Patient

ADHS. Dr. Heinz Dommes, Neuropsychologe und Psychotherapeut in der Institutsambulanz am Alexianer Krankenhaus, bezeichnet das als eine „Anhäufung von Symptomen wie Hyperaktivität, Impulsivität, Stimmungslabilität und mangelnder Stimmungskontrolle, Desorganisation und emotionalen Überreaktionen, die in ihrem Zusammenspiel eine Krankheit ergeben können — aber nicht müssen“. Die Krankheit heißt Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung und gilt als die häufigste seelische Erkrankung im Kindesalter. Weniger bekannt ist: Auch Erwachsene können unter ADHS leiden.

Inforeihe Psyche

ADHS

Otto Ror ist 57 Jahre alt, seine Diagnose liegt noch kein Jahr zurück. Aber: ADHS hatte Ror schon als Kind. Auch damals gab es einen Namen für sein Verhalten: Zappelphilipp. „Ich war der Klassenclown, der sich immer in den Vordergrund drängte, der absolut hyperaktiv war.“ Otto Ror war das Kind, das nie still sitzen, nie den Mund halten, den Kopf nie abschalten konnte. Die Reaktionen aus seinem Umfeld? „Absolut klassisch“, sagt der 57-Jährige heute. „Meine Eltern, Mitschüler und Lehrer haben mit Abgrenzung, Demütigung und Erniedrigung reagiert.“

Zuhause verzweifeln die Eltern an seinen Explosionen, Ottos ungezähmtem Zorn, seinem Heulen, Schreien, auf den Boden stampfen. „Wie sollten sie auch eine ungebremste Rakete stoppen?“, fragt der erwachsene Ror. Seine Reaktion beschreibt er als „klassisch für einen ADHSler. Natürlich habe ich versucht, da zu brillieren, wo andere es nicht konnten, meine Fähigkeiten zu übersteigern.“ Bei Mitschülern und Lehrern bringt ihm das den Spitznamen Professor ein. Dass er ein Besserwisser ist; einer, der sich über das Nichtwissen anderer profiliert und belustigt, habe ihm die Schulzeit sicher nicht angenehmer gemacht. Trotzdem macht Ror einen guten Hauptschulabschluss: „ADHSler werden häufig ein oder zwei Schulformen unter ihren Möglichkeiten beschult“. Er bekommt gleich bei der ersten Bewerbung die Ausbildung als Bankkaufmann.

Eine psychische Störung wie ADHS stehe Betroffenen nicht grundsätzlich im Weg, „sie kann manchmal sogar karrierefördernd sein“, erklärt Psychotherapeut Dommes. Ordnung, Sauberkeit, der Hunger nach Erfolg — für Otto Ror sind das zunächst durchaus „positiv besetzte Süchte“. Als Berufseinsteiger profitiert er von seiner unbremsbaren Begeisterungsfähigkeit für den Job. Nach der Ausbildung mit 17 vertritt er als Springer die Leiter verschiedener Bankfilialen. „Mit 21 war ich selbst Filialleiter. Und ein absoluter Workaholic.“ Neben dem Beruf studiert er Betriebswirtschaft.

Auch privat lebt Otto Ror auf der Überholspur. Mit 19 heiratet er, „mit 21 war ich geschieden“. Die nächste Ehe schließt er mit 26, „das hat etwa fünf Jahre gehalten“. Warum die Beziehungen zerbrochen sind? „Es ist enorm schwer, einen ADHSler, diese überzogene, übersteuerte Art auszuhalten“, reflektiert Ror, auch in Hinblick auf die Beziehung mit seiner dritten Frau, die seit 24 Jahren hält und mit der er fünf Kinder hat. „Das ist lange, meine Frau empfindet das auch so“, sagt er.

Dr. Heinz Dommes. Psychotherapeut über sein Credo

Otto Ror polarisiert, er ist ein Mann der Extreme. Ganz oder gar nicht. Schwarz oder weiß. Als er aus gesundheitlichen Gründen keinen Leistungssport mehr machen kann, fängt er mit dem Rauchen an — „von heute auf morgen 80 Zigaretten am Tag“. Er stürzt sich in den Job, feiert berufliche Erfolge, trinkt häufiger über den Durst. Viele Jahre geht das vermeintlich gut. „Dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem Körper und Seele Feierabend machen.“ Bei Ror ist das ein Tag im November 2015. Aus heutiger Sicht sei der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, eine Belanglosigkeit gewesen, sagt der 57-Jährige. Sein Chef habe einen Kundentermin, den er als wichtig betrachtet habe, abgesagt. „Ich habe meine Sachen gepackt und die Firma nie wieder betreten.“

Sein Hausarzt, der Ror wegen Burnouts krankschreibt, entdeckt auch noch „ein paar andere Probleme“ im Leben seines Patienten. Alkohol ist eines davon, von ADHS nicht die Rede. Der Mediziner schreibt dennoch eine Überweisung zum Psychologen. „Viele Betroffene kommen gar nicht mit dem Verdacht auf ADHS, sondern mit einer Suchterkrankung zu uns in die Klinik“, erklärt Heinz Dommes. Die Überschneidung mit Suchterkrankungen liege bei 60 Prozent — Mediziner sprechen von Komorbidität (Begleiterkrankung).

Andere Begleiterkrankungen können Depression (40 Prozent), Persönlichkeits- (35 Prozent), Angst- (20 Prozent) oder Essstörungen (vier Prozent) sein. Betroffene versuchten, Symptome der ADHS wie erhöhte Erregbar- oder Zappeligkeit etwa mit Alkohol abzuschwächen, „Nikotin- oder Koffeinkonsum helfen Betroffenen dabei, die Konzentrationsfähigkeit zu stärken“, erklärt Dommes. Steht die Diagnose fest, sei es Ziel der Therapie, beide Erkrankungen für sich zu behandeln. Allerdings: „Ich behandle keine Menschen mit ADHS, sondern nur solche, die daran leiden“, das habe ein erfahrener Therapeut ihm einmal mit auf den Weg gegeben, erklärt Dommes seinen Leitsatz.

Otto Ror leidet unter der ADHS. Seit er mit Medikamenten eingestellt ist und Gesprächs- und Verhaltenstherapien besucht, weniger, als in der langen Zeit seit seiner Kindheit als Zappelphilipp. „Das erste was sich verändert hat, ist mein Verhältnis zu mir selbst“, sagt Ror. „Ich habe gelernt, mich selbst zu sehen.“ Auch damals in der Situation mit Vollgas auf der Landstraße. „Ich bin nicht immer nur das Opfer — sondern auch der Täter.“