Plädoyer Christian Wulff redet Deutschland ins Gewissen
Krefeld · Der Alt-Bundespräsident war am Dienstagabend Premeriengast bei „IHK trifft...“. Dort erzählt er, warum er Krefeld und dem Niederrhein eng verbunden ist.
Die Zeiten sind hart, die Zeiten sind schwierig. Da trifft es sich ganz gut, wenn jemand Berufenes einen humorvollen, charmanten Anlauf nimmt, Deutschland, dessen Politik und Gesellschaft einmal ins Gewissen redet, schonungslos, ehrlich, unmissverständlich, aber so, dass ein jeder Zuhörer sich eingeladen und mitgenommen fühlen kann. Wahrscheinlich hätte die Krefelder Industrie- und Handelskammer keinen besseren Gast für ihre neue Reihe „IHK trifft...“ finden können. Denn sie traf Christian Wulff, den Alt-Bundespräsidenten, der in seiner politischen Laufbahn und vor allem im höchsten Amt des Staates Licht und Schatten gesehen hat. Das Publikum war lediglich digital anwesend. Aber es sollte sich lohnen, vor dem digitalen Endgerät auszuharren.
Christian Wulff ist Krefeld und dem Niederrhein nach eigenem Bekunden in vielerlei Hinsicht eng verbunden. Nicht nur, dass in Mönchengladbach der Fußballverein seines Herzens beheimatet ist und er in Neuss höhere Vereinsweihen erhalten hat. „In Krefeld hatte ich einen meiner größten Erfolge“, erzählte Wulff augenzwinkernd. „Ich wurde als Krawattenmann des Jahres ausgezeichnet, und ich erhielt von der hiesigen CDU die Niederrhein-Eule.“ Die Krefelder Jecken beglückten den Alt-Bundespräsidenten mit dem Närrischen Steckenpferd. So viel Glück bedingt fast zwangsläufig aber auch einen Moment des Schreckens. Den hatte Wulff in der niederrheinischen Schlagerwelt. „Ich habe mich auf dünnes Eis begeben, wahrscheinlich bin ich sogar eingebrochen, als ich Helene Fischer als Retterin des deutschen Liedgutes bezeichnete - und dabei Andrea Berg vergaß.“ Mit diesem Sakrileg hielt Wulff nicht hinter dem Berg, ehe er die Tonart wechselte.
Deutschlands Gegenwart ist Moll. Die vergangenen gut zwölf Monate sind womöglich die schwierigsten seit dem Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg. Eine ganze Gesellschaft ist in Geiselhaft eines Virus, der einer Nation und deren System sämtliche Versäumnisse der Vergangenheit vor Augen führt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Wulff seinen Vortrag im Von-der-Leyen-Saal der IHK mit „Ambitionierte Anstrengungen für Deutschland“ überschrieben hat. Er hätte ihn auch ambitionierte Politik für Deutschland nennen können, aber Kritik an den Akteuren in Berlin und den Bundesländern geziemt sich nicht für einen Alt-Bundespräsidenten. Doch wer ihn so verstehen wollte, ging sicher nicht fehl. Dabei habe Deutschland in und mit Europa alle Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen, wenn es auf seine Innovationskraft, seine mittelständischen Wirtschaft und die gesellschaftliche Vielfalt setze, die nicht zuletzt aus der Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre erwachse.
Wulff befürwortet einen
schlanken Staat
„Es kann nicht sein, dass in Gesundheitsämtern noch Faxgeräte stehen“, sagte Wulff, als er sich mit Digitalisierung beschäftigt. Nach Unternehmern wissen durch Corona nun auch Schülerinnen und Schüler, wie weit die stolze Industrienation Deutschland der Musik auf diesem Gebiet hinterherläuft. Wulff kennt einen Grund dafür nur zu genau.
Schon als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen hat er mehr als Kollegen in anderen Bundesländern auf die Kraft von Privatinitiative und Wirtschaft gebaut. Mit Erfolg, wie er heute noch sagt. Zumindest ist Niedersachsen nicht eingebrochen, seit es dort keine Bezirksregierungen mehr gibt.
Weniger Staat, weniger Bürokratie, mehr Vertrauen ins Handeln der Bürger sind Eckpfeiler einer Gesellschaft, wie Wulff sie seinem Heimatland empfiehlt. Derzeit nehme er mit großer Sorge Tendenzen wahr, die in eine andere Richtung gehen. Dabei liegen die Herausforderungen der Zukunft auf der Hand, und sie sind nach Wulffs Überzeugung nur in einer starken Gemeinschaft zu bestehen.
Ganz oben auf der Agenda steht demnach der Klimaschutz. Aber er müsse so organisiert werden, dass auch weniger wohlhabende Menschen ihn sich leisten können. Demnach müssten Einkommensschwache vom Staat entlastet werden, wenn Energie- und damit Mietneben- oder auch Mobilitätskosten steigen. Wie? In dem der Staat schlanker wird, weniger eigene Kosten verursacht.
Deshalb erteilt der Alt-Bundespräsident auch all jenen eine Absage, die Umwelt- und Klimaschutz unter „Zeitgeist“ verschlagworten. „Das ist nicht Zeitgeist, sondern der Geist einer neuen Zeit“, sagt Wulff. Dieser Geist verlange nach ambitionierten Anstrengungen.
Auch an dieser Stelle pflichteten seine Gastgeber, IHK-Präsident Elmar te Neues und Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz, Wulff bei. „In den vergangenen Monaten ist uns bewusst geworden, dass es in vielen Bereichen hapert. Wir sind jetzt in einer Phase der Krise, in der wir nach vorne blicken müssen – in der wir Ideen benötigen, wie es besser geht“, sagte te Neues.
Vielleicht bringt Christian Lindner solche Ideen mit. Der FDP-Vorsitzende ist am Donnerstag,17. Juni, ab 13.15 Uhr Gast bei „IHK trifft...“.