Nervenerkrankung „Ich lebe im Hier und Jetzt!“
Krefeld · Leonita leidet an einer sehr seltenen Erbkrankheit. Das hält das Mädchen nicht davon ab, seinen Traum von einer beruflichen Zukunft in der Pflege zu verwirklichen.
Es gibt Menschen, die schaffen es, mit einem Blick, mit einem Lächeln, einem Wort, vielleicht auch einfach mit ihrer ansteckenden Lust aufs Leben nicht nur ihr eigenes, sondern auch das anderer Menschen zum Positiven zu verändern. Leonita Salja ist so jemand.
Bei den Bewohnern des Gerhard-Tersteegen-Hauses ist die 16-Jährige wegen ihrer ruhigen Art beliebt. „Sie kann aktiv zuhören, ist eine aufmerksame Beobachterin und nutzt ihre Beobachtungen als Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Vor allem aber ihre lebensbejahende Haltung verdient Respekt – das gibt den Menschen hier ganz viel“, sagt Judith Faust vom Sozialen Dienst des Pflegezentrums für alte und junge Menschen an der Virchowstraße, in dem Leonita jetzt ihr zweiwöchiges Schülerpraktikum absolviert hat.
Die 16-Jährige besucht die zehnte Klasse der Maria-Montessori-Gesamtschule. Anders als für die meisten ihrer Mitschüler sind Krankheit und Pflegebedürftigkeit Alltag im Leben von Leonita. Seit sie 13 Jahre alt ist, sitzt sie im Rollstuhl; zwei Jahre zuvor, mit elf, bekam sie die Diagnose Friedreich-Ataxie.
Friedreich-Ataxie ist
bis heute nicht heilbar
„Du gehst irgendwie komisch“ – dieser Hinweis aus dem Freundes- und Bekanntenkreis habe sie gemeinsam mit ihrer Mutter eines Tages zum Arzt geführt. Breitbeinig, „eher wie ein Junge“, sei sie damals gelaufen, erzählt Leonita, habe sich aber kerngesund gefühlt. Schätzungen zufolge leiden etwa 1500 Menschen in ganz Deutschland an der Erbkrankheit, die das zentrale Nervensystem betrifft und die im Verlauf der Erkrankung Feinmotorik, Sprache, Herz- und Lungenmuskulatur beeinträchtigt. Friedreich-Ataxie ist bis heute nicht heilbar und verläuft für Erkrankte letztlich tödlich – so wie die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose, besser bekannt als ALS.
Das Thema Tod war für die elfjährige Leonita ganz weit weg. „Ich habe das gar nicht verstanden und mir auch keine Gedanken darüber gemacht“, sagt sie. „Ich konnte ja alles, außer rennen.“ Doch die Krankheit, die in Schüben verläuft, schreitet voran. „Mit 13 konnte ich nicht mehr so weit laufen, da habe ich den Rollstuhl bekommen.“ Heute hat sie Schwierigkeiten dabei, sich ein Glas Wasser einzuschenken, auch das Sprechen fällt ihr manchmal schwer: „Ich spreche langsamer und leiser als früher“, sagt sie. „Im ersten Moment ist das schon doof, aber ich kann damit leben.“
Ihre Hobbys: Einkaufen, Achterbahnfahren und Rap-Musik
Statt sich von ihrer Krankheit einschränken zu lassen und darüber zu trauern, was sie alles nicht mehr kann, freut sich Leonita lieber über das, was sie kann: Mit ihren zwei besten Freundinnen fährt sie regelmäßig zum Einkaufen nach Düsseldorf oder Köln, mit ihrer Mutter trainiert sie ihre Muskeln beim Schwimmen. „Und ich liebe Achterbahnfahrten“, sagt Leonita. Sie träumt davon, ihren Lieblingsrapper Azet von der KMN Gang aus Dresden mal zu treffen und mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen.
Mit ihren Erzählungen vom Fallschirmspringen habe sie auch eine Bewohnerin des Gerhard-Tersteegen-Hauses, eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau Ende 40, angesteckt, erzählt Psychologin Judith Faust. „Ein Fallschirmsprung war immer der Lebenstraum dieser Patientin, sie hatte ihn aber ad acta gelegt, als sie merkte, dass sich ihre Erkrankung verschlimmert – jetzt ist die Idee wieder da und sie möchte mit Leonita zusammen einen Tandemsprung machen.“
Und Leonita? Die weiß nach ihrem Praktikum im Pflegezentrum: „Ich will erst mal meinen Hauptschulabschluss machen und dann unbedingt im sozialen Bereich arbeiten.“ Am liebsten als Alltagsbegleiterin für Menschen, die wie sie selbst auf Hilfe im Alltag angewiesen sind. In Judith Faust hat Leonita eine Unterstützerin ihres Berufswunschs gefunden: „Vor Beginn des Praktikums haben wir lange miteinander gesprochen, ob Leonita ihr Praktikum tatsächlich in einer Pflegeeinrichtung absolvieren möchte. In Bezug auf ihre künftige Pflegebedürftigkeit schaut sie hier in einen Spiegel“, sagt Faust.
Doch Leonita wollte. Besonders gut habe es ihr in der geschützten Wohngruppe für Demenzerkrankte gefallen, erzählt sie. „Mit den älteren Damen ,Mensch ärgere dich nicht’ zu spielen, ihnen vorzulesen und zuzuhören, das hat mir Freude gemacht.“ Auch die Arbeit auf der Station für Menschen im Wachkoma „fand ich sehr spannend“, sagt sie. „Man kann an der Atmung und Mimik erkennen, wie es den Menschen geht.“ Sicher auch wegen ihrer eigenen Geschichte sei die 16-Jährige besonders sensibel für die Gefühle anderer, glaubt Judith Faust. „Leonitas Idee, Betreuungskraft zu werden, finde ich sehr realistisch, auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erkrankung.“ Die Ausbildung zum Alltagsbegleiter dauere zwischen drei und vier Monate – für die Schülerin bedeute das vor allem die Chance, später auch in diesem Beruf arbeiten und Geld verdienen zu können.
Prognosen über den Verlauf der Erkrankung und die Lebenserwartung von Betroffenen zu treffen sei schwer, sagt Judith Faust. „Statistisches Material ist kaum belastbar, da Friedreich-Ataxie so selten ist.“ An den Tod verschwendet Leonita ohnehin keinen Gedanken. „Ich lebe im Hier und Jetzt und genieße das Leben so, wie es ist.“