Mit Amnesty verbindet man Briefe schreiben für politische Verfolgte, die in Diktaturen im Gefängnis sitzen. Bringt das überhaupt was?
Peter-Michael Friedrichs engagiert sich für Menschenrechte „Folter ist im Grundgesetz nicht ausgeschlossen“
Interview · Der Krefelder Peter-Michael Friedrichs ist seit 50 Jahren bei Amnesty International. Im WZ-Interview verrät der 72-Jährige, warum er damit nicht aufhören will.
Peter-Michael Friedrichs wohnt so ländlich, dass es den Verdacht erweckt, er habe kein Interesse an der Welt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Seit 50 Jahren ist Friedrichs Mitglied in der Krefelder Ortsgruppe von Amnesty International und wirbt bis heute an Schulen für Menschenrechte. Für das Interview lädt der pensionierte Lehrer, 72, in den Garten. Er hat Kuchen gekauft. An den Vorsatz, diesen erst nach dem Gespräch zu essen, hält er sich nur einige Minuten.
Peter-Michael Friedrichs: Im Februar sind eine junge Iranerin und ihre Mutter entlassen worden, Yasaman Aryani und Monireh Arabshahi. Sie hatten 2019 unverschleiert Blumen in der U-Bahn verteilt und waren deshalb zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Amnesty hat die beiden zu einem der zehn Fälle für den Briefmarathon gemacht, den wir weltweit immer zum Tag der Menschenrechte durchführen. Der iranische Justizminister hat daraufhin mehr als eine Million Briefe bekommen. Briefe, keine E-Mails. Es fällt ja auf, wenn Briefe angekarrt werden.
Frustriert Sie nicht gerade so ein Land wie der Iran? Trotz der Aufstände scheint sich nichts zu ändern.
Friedrichs: Trotzdem haben wir zwei Frauen freibekommen. Man kann nicht sagen: Es geht nie. Und wenn es nur zur Hafterleichterungen kommt. Für den Einzelnen macht das etwas aus.
Aber das Regime bleibt.
Friedrichs: Amnesty würden nie zu einem Umsturz auffordern. Die Leute sollen selbstbestimmt ihre Regierung wählen können. Im Iran bin ich gar nicht so pessimistisch. Die Frauenbewegung ist so stark geworden, dass ich glaube, es wird sich da längerfristig etwas ändern. Es gibt keine Diktatur, die mehrere Generationen überlebt hat. Schauen Sie auf unser eigenes Land.
Sie sind vor 50 Jahren Amnesty beigetreten. Warum sind Sie mit 72 immer noch dabei?
Friedrichs: Weil ich finde, dass die Welt noch immer ungerecht ist, auch wenn sie für viele Menschen tatsächlich sehr viel besser ist als vor 50 Jahren. Wir haben noch nie so viele Todesurteile gehabt. Die Folter nimmt zu. Es gibt neue Menschenrechtsverletzungen in Folge der Klimakrise. Menschen werden vertrieben oder umgebracht, um ihr Land auszubeuten. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht. Da hört man dann, das seien teilweise Wirtschaftsflüchtlinge. Aber was heißt das? Wenn du in einem Land lebst und zu den unteren 50 Prozent gehörst, hast du null Chance, jemals in einen Beruf zu kommen, deine Kinder zu ernähren. Da sucht man sich ein Land, in dem das besser läuft. Und uns fehlen in den nächsten zehn Jahren bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte.
Wer sich für Menschenrechte einsetzt, muss ein Gespür für Unrecht haben. Wann haben Sie zum ersten Mal Unrecht empfunden?
Friedrichs: Noch in der Volksschule. Mein Vater hatte sich von meiner Mutter getrennt, sie stand mit mir allein da. Einmal musste ich auf dem Amt in der Hansastraße meinen Personalausweis verlängern. Der Typ hat mich unglaublich laut gefragt: Wieso ist denn Ihr Vater nicht mehr da? Das hatte mit dem Personalausweis überhaupt nichts zu tun. Diese Bloßstellung hat in mir Wut erzeugt. Damals musste ich regelmäßig erklären, wo mein Vater war. Ich wollte dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr passiert. Auch anderen nicht.
Es braucht aber auch Menschen, die einen prägen. Wer war das bei Ihnen?
Friedrichs: Meine Großmutter war eine Frau, die sehr gerecht war. Die es auch geäußert hat, wenn sie etwas ungerecht fand. Ich bin auch durch einen Lehrer in der Volksschule sozialisiert worden. Wir mussten dort als Jungs kochen lernen. Er ist mit uns ins Theater gegangen. Durch diese Einflüsse und die Erziehung meiner Mutter war ich gegen die Todesstrafe, besonders in den USA. Die haben Leute abgespritzt wie Vieh. Die USA sind heute die einzige große Demokratie, die noch die Todesstrafe ausübt. Ein Staat richtet einen Menschen aus ebenso niedrigen Beweggründen hin, wie ein Mörder jemanden tötet. Der Staat will letztlich Geld sparen. Und abschrecken. Aber als Abschreckungsmittel einen Menschen hinrichten, geht gar nicht.
Deshalb sind Sie Amnesty beigetreten?
Friedrichs: Ich habe einen Infostand von Amnesty gegen die Todesstrafe in der Innenstadt gesehen. Krefelder Bürger haben sich sehr lautstark für die Todesstrafe ausgesprochen. Die zwei jüngeren Frauen am Stand wurden sehr bedrängt. Da dachte ich: Da müssen mehr Leute etwas machen.
Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, dass es etwas bringt, sich zu engagieren?
Friedrichs: Als Frankreich 1981 die Todesstrafe abgeschafft hat. Dafür haben wir uns eingesetzt. Wir arbeiten bei Amnesty überhaupt auch völkerrechtlich, versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Weiterentwicklung internationaler Menschenrechtskonventionen. Die Todesstrafe steht in Deutschland zwar nicht im Grundgesetz, aber noch in einigen Landesgesetzen. Bundesrecht geht vor Landesrecht, aber was passiert im Kriegsfall? Warum wird die Todesstrafe nicht abgeschafft? Der Vater von Ursula von der Leyen, Ernst Albrecht, damals Ministerpräsident von Niedersachsen, wollte zu Zeiten der RAF die Folter wieder einführen. Folter ist im Grundgesetz nicht ausgeschlossen, nicht explizit unter dem Begriff Folter. Dort steht, es darf keiner misshandelt werden von staatlichen Stellen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht explizit, Folter ist nicht zulässig.
Einmal erkämpfte Menschenrechte muss man also immer wieder verteidigen.
Friedrichs: Zurzeit haben wir die Riesendiskussion über Flüchtlinge und die Wege übers Mittelmeer. Da vereinbart eine Ursula von der Leyen mit einem nachweislich diktatorischen Land wie Tunesien, dass die EU 900 Millionen Euro zahlt, damit sie uns die Leute fernhalten. Was mit den Flüchtlingen passiert, darüber redet man nicht. Es regt sich kein massiver Widerstand in Deutschland, und jetzt liegt die AfD in Umfragen bei 18 Prozent.
Interessiert sich Amnesty auch für Menschenrechtsverletzungen in Deutschland?
Friedrichs: Ja, aber eine Amnesty-Gruppe bearbeitet nie einen Fall im eigenen Land, aus Neutralitätsgründen. Wenn in Deutschland Menschen bei Demos zu Unrecht verhaftet werden, zum Beispiel Umweltaktivisten, wenn Menschen von der Polizei misshandelt werden, dokumentiert und prüft Amnesty solche Fälle, aber eben durch eine Gruppe aus dem Ausland. Es muss dafür gesorgt werden, dass sich eine Staatsgewalt an Recht und Gesetz hält. Nur beim Asylrecht machen das Gruppen vor Ort, weil wir da Leute begleiten. Was das Asylrecht betrifft, sind wir leider kein sehr vorbildliches Land. Aber Krefeld ist gar nicht so schlecht. Die Räume des Flüchtlingsrats, dem Amnesty angehört, bezahlt die Stadt.
Beim Rundgang für Demokratie und gegen Rassismus der Stadt Krefeld waren in den vergangenen drei Jahren weder der Oberbürgermeister noch der Fachbereichsleiter Migration und Integration dabei. Das vermittelte nicht den Eindruck, als wären der Stadtverwaltung diese Themen wichtig.
Friedrichs: Das ist schon bemerkenswert.
Ihr Schwerpunkt liegt bei der Vermittlung von Menschenrechten in der Schule. Das hat sicher damit zu tun, dass Sie als Lehrer für Mathe und Informatik an der Lore-Lorentz-Schule in Düsseldorf gearbeitet haben.
Friedrichs: Ganz klar. Ich hatte während des Studiums einen Pädagogik-Professor, der im Jahr vier Bücher schreiben musste. Er bekam mit, dass ich Menschenrechtsarbeit mache. Also hat er mir vorgeschlagen, eines dieser Bücher zum Thema Menschenrechtserziehung zu schreiben. Es ging um einen amerikanischen Psychologieprofessor, Lawrence Kohlberg. Der hatte die Theorie entwickelt, dass sich jeder Mensch moralisch im Idealfall in sechs Stufen entwickelt. Die oberste Stufe erreicht universale Prinzipien der Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche Rechte, und die Würde des Einzelwesens ist zu achten. Als ein Beispiel für Menschen, die diese Stufe erreichen, nennt er Mahatma Ghandi.
Und die anderen Stufen?
Friedrichs: Stark verkürzt: Ein Kind kommt mit Moralstufe 1 auf die Welt: Ich will meine Bedürfnisse befriedigt haben und tue dafür alles. Wenn ich erkenne, dass die anderen die gleichen Rechte haben, erreiche ich Stufe 2. Bei Stufe 3 merkt man, es gibt um mich herum eine Gesellschaft, es gibt andere Meinungen und Bedürfnisse, und die möchte ich als guter Mensch zulassen. Stufe 4, von der ich mir wünsche, dass sie jeder erreicht, beschreibt, dass jeder in seiner Gesellschaft das verwirklicht, was die Verfassung gebietet. Das wären bei uns die Grundrechte. Es gibt allerdings Politiker, die stehen eigentlich auf Stufe 4 oder 5, aber sie handeln nicht danach, weil es um ihre eigenen Interessen geht.
Also darum, wiedergewählt zu werden. Auf welcher Stufe stehen Sie?
Friedrichs: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hoffe, auf Stufe 5. Das heißt, ich kann Recht und Gesetz dort infrage stellen, wo es falsch ist. Es gibt Gesetze, die verstoßen vielleicht gegen Menschenrechte. Unser Asylrecht hieß in der Urfassung 1949: Politisch Verfolgte genießen Asyl. Das ist ein einziger Satz. Heute ist das ein riesiger großer Paragraph mit vielen Einschränkungen. Gesetze können sich so verschlechtern, dass ich dagegen angehen muss.
Stimmt es, dass Sie mit dafür gesorgt haben, dass Menschenrechte auf die NRW-Lehrpläne kamen?
Friedrichs: Ich habe 1980 mit Herbert Knepper vom Kultusministerium an dem Erlass geschrieben. Er wurde in NRW sogar rechtsverbindlich, während er in den meisten Bundesländern nur als Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtsbildung in der Schule übernommen wurde. Rechtsverbindlich ist er mittlerweile auch in NRW nicht mehr.
Wie lassen sich Menschenrechte denn im Unterricht vermitteln?
Friedrichs: Da gibt es einen Dreischritt. Erstens: Die Menschen brauchen Kenntnis. Sie müssen von Menschenrechten und deren Verletzung erfahren. Das muss schon in der Grundschule anfangen, denn die Kinder haben Rechte. Zum Beispiel das Recht auf Privatsphäre, ältere Kinder müssen also ihre Zimmertüre nicht offen stehen lassen, nur weil die Eltern es wollen. Zweitens braucht es ein Bewusstsein, dass Menschenrechte Relevanz haben und ich mit anderen etwas bewirken kann. Dafür brauche ich drittens Handlungskompetenz. Das ist das Schwierigste. Zu lernen, was man tun kann. Zum Beispiel als ersten Schritt gegen die Klimakrise bei einer Demo von Fridays For Future mitzugehen.
Konkurriert das Thema Menschenrechte nicht mit dem Thema Klimakrise?
Friedrichs: Durch die Klimakrise werden Menschenrechte verletzt, das Recht auf Leben, Ernährung, Wohnen, Wasser und sanitäre Anlagen, Mitbestimmung. Leute werden vertrieben, weil auf ihrem Land Öl entdeckt wurde. Dabei müssten wir ja vom Öl wegkommen.
Gibt es ein Menschenrecht, nicht bei 50 Grad leben zu müssen?
Friedrichs: Eigentlich müssten alle Regierungen, die sehen, wie sich die Situation laufend verschlechtert, bereit sein, etwas gegen diese Krise zu tun. Die Klimakrise hat konkrete Auswirkungen auch auf ihre eigenen Bürger. Die Frage ist: Wessen Interessen vertritt eine Regierung? Eigentlich müsste die deutsche Regierung ein Rieseninteresse haben, gegen die Klimakrise vorzugehen. Faktisch ist es aber nicht so, wenn man sieht, was beschlossen wird.
Also ist es okay, sich notfalls auch auf die Straße zu kleben?
Friedrichs: Amnesty arbeitet gewaltfrei. Sich auf die Straße zu kleben und damit massiv zu verhindern, dass Menschen sich frei bewegen können, ist für mich persönlich ein No-Go. Ich halte das für eine Gewaltanwendung. Du kannst nicht mit einer Menschenrechtsverletzung eine andere verhindern.
Aber es wird doch mit jedem Tag dringender, etwas zu tun.
Friedrichs: Es gibt so viele andere Möglichkeiten, die wir erst mal ausschöpfen sollten. Wenn ich heute auf einer Fridays-for-Future-Demo bin, sind das 80 Prozent Leute wie wir, parents for future oder grandparents for future. Es ist unglaublich, wie wenig Schüler das in Krefeld nur noch sind. Ich habe das kommen sehen. Die waren zu unstrukturiert. Das muss sich wieder ändern.
Vor einigen Wochen standen vor dem Rathaus die sogenannten Toleranzräume, Container, die Toleranz für eine andere Herkunft oder sexuelle Orientierung vermittelt haben. Sie haben dort einige Schulklassen herumgeführt. Es hat einen Zwischenfall gegeben, oder?
Friedrichs: Nicht in meiner eigenen Gruppe, aber bei einer anderen habe ich mitbekommen, dass einige wenige Teilnehmer mit den Inhalten nicht einverstanden waren. Es waren drei Jungs, die hatten Probleme mit LGBTIQ, besonders mit Homosexualität und der Rolle von Frauen. Die haben da echt abgezogen. Ich habe auch den Satz gehört: „Wir sind die Könige, wir haben den Frauen klarzumachen, wo es langgeht.“ Die Lehrerin hat keinen Ton dazu gesagt, dabei kann sie so etwas nicht einfach stehenlassen.
Was könnte ein Lehrer denn tun?
Friedrichs: Die Jungen könnte man fragen: Was ist mit deiner Schwester? Würdest du ihr auch verbieten, einen bestimmten Freund zu haben? Deren Meinung wird stark über die Eltern vermittelt. Das muss Menschenrechtserziehung aufbrechen. Ich kann niemanden innerlich umkrempeln, aber ich kann als Lehrer etwas beitragen. Ich habe zwar Mathe unterrichtet, aber am Weltfrauentag gab es kein Mathe. Da wurden Frauenrechte unterrichtet. Ich arbeite immer mit Beispielen. Wenn zwei Mädchen eine Beziehung eingehen wollen und die Eltern wollen das verbieten, welche Rechte verletzen die Eltern? Dann bist du sofort drin im Thema. Alles in der Pädagogik ist ein Prozess. Du musst als Lehrer und als Amnesty-Mitglied einen langen Atem haben.
Sie müssen Erfolg anders definieren, um nicht den Mut zu verlieren.
Friedrichs: Schon eine Hafterleichterung im Iran ist ein Erfolg. Oder ein Asyl, das gewährt wird. Aber es muss immer wieder was getan werden. Im Moment müssen wir in Deutschland wieder schwer nach rechts schauen. Da musst du wieder Menschenrechte vermitteln, damit das nicht abdriftet. Das ist eine Sisyphos-Arbeit.
Kennen Sie denn keinen Frust?
Friedrichs: Im Mathematik-Unterrichtet habe ich den Schülern bei einem schweren Problem erzählt: Ihr habt eine Mauer vor euch und da wollt ihr rüber. Also baut ihr euch eine Leiter und geht Schritt für Schritt nach oben. Wladimir Putin wird international per Haftbefehl gesucht. Jedes Land, das den Europäischen Gerichtshof anerkennt, dürfte ihn sofort verhaften. Das wird aktuell kein Land machen, aber das ist trotzdem ein unglaublicher Fortschritt. Immerhin hat Putin kürzlich eine Reise nach Südafrika, das den Gerichtshof anerkennt, nicht angetreten.
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