Ehemaliger Vizekanzler Sigmar Gabriel in Krefeld: „Wir kommen in unbequeme Zeiten“

Krefeld · Als Gast der IHK erklärte der frühere Vizekanzler Sigmar Gabriel, wie und warum sich die Wirtschaft verändert.

Sigmar Gabriel sprach in Krefeld ruhiger und gleichmäßiger als in den Zeiten, in denen er Minister in Berlin war.

Foto: Dirk Jochmann

Wie es um den Humor eines Menschen bestellt ist, zeigt sich am besten dann, wenn er improvisieren muss. Sigmar Gabriel war bei „Impulse – das Wirtschaftsforum am Niederrhein“ am Donnerstagabend dazu gezwungen, als mitten in seiner Rede ein Feueralarm losging. Als der Lärm nach gut zwei Minuten vorüber war, sagte der 59-Jährige: „So schlimm war ich doch eigentlich gar nicht.“

Das war neben Understatement auch eine treffende Beschreibung seines Besuchs beim Abend der Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein. Die Gäste erlebten einen anderen Sigmar Gabriel, als sie ihn bis Anfang 2018 im Fernsehen wahrgenommen hatten. Als Regierungsmitglied neigte der Niedersachse zum regelmäßigen Bellen und Brüllen, wirkte er unzufrieden mit Druck und Hetze seines Geschäfts. In Krefeld sprach er ruhig und gleichmäßig, wirkte gelassen und griff erkennbar auf Erfahrungen und Eindrücke zurück, die als Minister für Umwelt, für Wirtschaft und für Außenpolitik gesammelt hatte. Dabei ging es ihm offensichtlich nicht um Applaus, schon gar nicht um günstigen. Er scheint Zeit gefunden zu haben, das Gelernte und Gesehene zu sortieren und nun in die Debatte einzubringen. Die Zuhörer nutzten die Chance in der von RP-Lokalchef Jens Voss moderierten Diskussion nach der Rede Gabriels.

Der frühere Vizekanzler beantworte an diesem Abend die Fragen, wohin Deutschland steuert und welche wirtschaftlichen Zeiten auf die Unternehmen zukommen. Mit einer Geschichte aus seiner Familie veranschaulichte er, in welchem Wandel wir uns befinden. Er habe seiner erwachsenen Tochter erzählt, dass es für ihn mit 18 Jahren das wichtigste war, dass er ein Auto (ein alter Käfer) hatte. Die Tochter empfand das als „schräge Idee“. Ihr sei Mobilität wichtig, und zwar unter der Woche eine andere als am Wochenende und im Sommer eine andere als im Winter. Wenn sie Mobilität suche, gehe sie nicht zum Autohändler, sondern ins Internet. Und das beherrschten fünf amerikanische Dienstleistungsunternehmen „und demnächst noch zehn chinesische“, aber eben kein deutsches oder europäisches, sagte Gabriel.

IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz (l.) und IHK-Präsident Elmar te Neues während der Rede Gabriels.

Foto: Dirk Jochmann

Zentrale These des Sozialdemokraten war, dass das, was bisher das deutsche Erfolgsmodell (starker Export) ausgemacht habe, nun zum Risikofaktor werde. Dafür nannte er drei Gründe: Die Welt neige stärker zu Protektionismus und Handelsstreits; China werde innen stärker und nicht weiter nur Marktplatz sein; und die Digitalisierung stelle auf den Kopf, was die deutsche Wirtschaft bisher gewohnt war, nämlich die Investition ins Produkt. Siehe Mobilität der ältesten Tochter.

Der Gast aus Goslar absolvierte gleichermaßen viele Themen und die erforderliche Tiefe. Er nannte den vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohle Symbolpolitik, die ein Vielfaches dessen koste, was Deutschland in Künstliche Intelligenz investiere. Er sagte, dass er das Ende des Solidarzuschlags als falsch empfinde, weil die ländlichen Regionen („in Ost- und Westdeutschland“) dieses Geld brauchten. Er plädierte für eine ökologische Steuerreform, für Schulden zugunsten von Schulen und Hochschulen: „In den schwierigsten Stadtteilen sollten die besten Schulen stehen, damit man sieht, dass Bildung etwas wert ist.“ Und er warb für ein Beschleunigungsgesetz bei national bedeutsamen Infrastrukturprojekten, so dass nur noch in einer Instanz gegen diese geklagt werden könne.

Mit dem Satz „Wir kommen in unbequeme Zeiten“ fasste Gabriel seine sicher nicht von übertriebenem Optimismus geprägte Rede zusammen. Und nutzte die letzte Minute für positive Worte: „Wir müssen den vielen normalen Menschen Mut machen, die wir sehen, wenn wir morgens aus dem Haus gehen, und nicht den wenigen, die wir sehen, wenn wir abends den Fernseher anmachen oder ins Internet gucken.“