Diskussion Sigmar Gabriel: „Demokratie ist nicht selbstverständlich“
Solingen · In Solingen streitet SPD-Politiker Sigmar Gabriel mit dem Journalisten Hans Leyendecker, Superintendentin Ilka Werner und dem SPD-Abgeordneten Helge Lindh über die unter Druck geratene Demokratie.
. „Ehemaliger Außenminister und SPD-Vorsitzender“ – so stand es in der Einladung geschrieben. Gemeint hatte der einladende Solinger SPD-Landtagsabgeordnete Josef Neumann damit anlässlich des sogenannten „Solinger Zukunftsgesprächs“ seinen Genossen Sigmar Gabriel. Moment. SPD-Vorsitzender? „Ist es schon wieder so weit?“ fragte Moderator und WZ-Chefredakteur Ulli Tückmantel lächelnd. Gabriel nahm es mit Humor, gab immerhin den kurzen Mentalitäts-Hinweis „Nein, Gott sei Dank“ – und widmete sich der Tücke des Journalisten: „So seid ihr, ihr nutzt immer den kleinen Fehler.“
Es war der Einstieg eines Gesprächs, in dem Gabriel mit dem Journalisten Hans Leyendecker, der Solinger Superintendentin Ilka Werner und dem Wuppertaler Bundestagsabgeordneten Helge Lindh und mit Tückmantel auf Spurensuche ging, weil sich die Spur der Demokratie in dieser Republik zunehmend zu verlieren scheint.
„Demokratie ist nicht selbstverständlich“ – diese Formel setzte den Rahmen für die Diskussion, in der Gabriel die „liberalen Demokratien“ vor allem auch deswegen unter Druck sah, weil sie mit der „wirtschaftlichen Stärke wendiger autoritärer Regime“ wie jenem in China konkurrieren. Um den nationalistischen Tendenzen in Europa entgegen zu wirken, müsse Deutschland, so Gabriel, aufhören zu wissen, „was gut für Europa ist“.
Seine Empfehlung: „Genscher und Schmidt sind früher erstmal zu den Kleinen gefahren und haben sich deren Probleme angehört. Wir müssen uns erstmal in die Schuhe der Schwächsten in Europa stellen, um herauszufinden, warum sie wie ticken“, sagte Gabriel und diagnostizierte als Gefahr der Demokratie Bewegungen von „rechts wie von links“.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh, im Parlamentsbetrieb Sprecher der „Arbeitsgruppe Demokratie“, forderte mehr Partizipation an Politik und Diskussionen und gab damit ein Leitthema des Abends vor. Denn die Menschen zu erreichen und für Demokratie im Miteinander zu begeistern – damit haben Journalisten so viele Probleme wie die SPD und die Kirchen.
Lindh stellt fest, dass Offenheit gegen Abschottung ganz natürlich Angst auslöse. „Das ist ein menschlicher Mechanismus mit leider ziemlich unmenschlichen Folgen.“ Seiner Erfahrung nach komme man aber mit Extrempositionen nicht zu Antworten. Das Problem von demokratischer Partizipation erkennt Lindh aber durchaus. „Mehr Beteiligung ist notwendig, klar, aber es geht eben nicht darum, die ohnehin Beteiligten noch mehr zu beteiligen.“ Vielmehr müsse man neue Orte und Begegnungen finden – eine Forderung, mit der er bei Theologin Ilka Werner offene Türen einrannte.
„Die Probleme der Kirche sind ähnlich gelagert wie die der SPD, und wir können trotzdem voneinander lernen“, sagte Werner und empfahl kreativere Begegnungen mit Menschen, die von der Nachkriegs-Ideologie des Wohlfahrtsstaats mit Kirchen und Organisationen gar nicht mehr wissen, aber dafür dann doch noch nicht verloren zu sein scheinen. Gegen den Aufruf aus dem Publikum, dass in der Runde die Erwartungshaltung an die „Jugend“ zu kurz komme, wehrte sich Werner. „Jugend ist Gegenwart, Jugend sind wir alle, weil wir unsere Probleme nicht auf eine nachfolgende Generation abwälzen können.“ Dass auch der Journalismus Demokratieverdrossenheit beschleunigt habe, befand der ehemalige SZ-Investigativjournalist Hans Leyendecker.
Der Journalismus habe sich von der Wirklichkeit abgekoppelt
Seine Diagnose: Journalismus habe sich zu sehr von Lebenswirklichkeit abgekoppelt. „Schwierige Verhältnisse und Lebenssituationen sind vom Journalisten nicht mehr abgebildet. Der beste Freund vom Journalisten ist Journalist“, sagte Leyendecker und empfahl nicht nur die Berliner Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau „Ohne Angst und Illusion“, sondern auch die notwendige Auseinandersetzung mit den Problemen der Leuten. Sein Rat: „Mit den Problemen der Leute beschäftigen – und nicht über die Probleme der Menschen reden.“ Die gut klimatisierten Büros, ergänzte Gabriel, bilden nicht die Hitze des Alltags ab.
Eine Diagnose war allen gemein: Unsere Gesellschaft hat ein Darstellungsproblem der Stärken von Demokratie. Leyendecker sprach deshalb von der „Angst des Rauchers vor dem Schlangenbiss“, Gabriel über Alltagserfahrungen: „Wenn ich TV sehe, denke ich, es sind alle verrückt geworden. Wenn ich bei Twitter lese, weiß ich, dass alle verrückt geworden sind. Und wenn ich in Goslar vor die Tür trete, treffe ich 90 Prozent völlig normale und zufriedene Menschen“, sagte er und warnte davor, „dass diese zehn Prozent in unserer Wahrnehmung eine deutlich zu große Rolle“ spielen. Auch über Europa würde zu negativ gesprochen: „Wir sind in weniger als in einer Generation von Auschwitz zu Maastricht gekommen“, sagte Gabriel. „Was für eine Errungenschaft.“
Damit einher ging Gabriels Diktum für „weniger Partizipation“, um Dinge besser vorantreiben zu können und daraus demokratische Stärke zu machen. „Die Menschen wollen, dass wir auch mal etwas entscheiden. Wir haben die individuellen Rechte eines jeden Bürgers massiv gestärkt, jeder kann gegen alles klagen, aber die politischen Entscheidungsspielräume sind dadurch viel kleiner geworden“, monierte Gabriel. „Heute haben wir Angst vor Entscheidungen.” Ob die SPD in diesem Zusammenhang zu einer Funktionspartei verkomme, sieht Gabriel noch nicht beantwortet. „Es hängt davon ab, ob wir uns gesellschaftlich wieder öffnen.“