Kinderschutzbund Krefelds kranke Kinder
Auffällig, aggressiv: Kinderschutzbund muss Knirpse aus offenem Ganztag nehmen. Es gibt zu wenig Therapieplätze.
Krefeld. Es geht so schnell, da bist du als Betreuer machtlos. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schmettert Max seinem Tischnachbarn Fabian (Namen geändert) das Holzbrettchen ins Gesicht. Blut fließt. So geschehen vergangene Woche im offenen Ganztag an einer Krefelder Grundschule in der City. Dietmar Siegert könnte viele solcher Geschichten erzählen. Der Geschäftsführer des Kinderschutzbundes und seine ehrenamtliche Vorsitzende Birgit August schlagen im WZ-Gespräch Alarm: Max müsste eigentlich in einer heilpädagogischen Einrichtung therapiert werden — und er ist kein Einzelfall. Der Kinderschutzbund wird einigen Kindern bald die Betreuung kündigen müssen, weil er die Verantwortung nicht mehr übernehmen kann.
Und dann gehen die Probleme erst los. Dass Kinder wie Max nämlich, die für einen normalen offenen Ganztag nicht mehr tragbar sind, in einer heilpädagogischen Einrichtung aufgefangen werden, ist in Krefeld mehr als unwahrscheinlich. Es gibt stadtweit gerade mal 38 Plätze, benötigt würden, Stand jetzt, dreimal so viele, glaubt Siegert. Tendenz steigend. „Und man muss sich das mal ganz deutlich machen: Wir reden hier von Grundschulkindern.“ Kleine Menschen mit bereits großen Problemen, mit denen sie dann ganz ohne pädagogische Anbindung allein sind. Man sei im engen Austausch mit anderen Trägern in der Stadt, besonders mit dem SkF, und spreche an dieser Stelle für alle. Birgit August sagt: „Wir haben aber eben auch die Verantwortung für die anderen Kinder und müssen an einem bestimmten Punkt die Reißleine ziehen.“
Dietmar Siegert, Geschäftsführer der Kinderschutzbundes Krefeld
Allein in den sechs Grundschulen, an denen der Kinderschutzbund den offenen Ganztag stemmt, zählt Siegert 13 Knirpse, die einer Therapie bedürfen. Viele der anderen Kinder, die August anführt, haben ihre eigenen Probleme und Defizite, gerade im Sozialraum Innenstadt. „Bis zu 50 Prozent aller Kinder in Krefeld werden in Armut hineingeboren. Das ist in der City besonders gravierend. Der Wohnraum ist günstig, Besitzer von Schrotthäusern bieten heruntergekommene Wohnungen für kleines Geld an“, erklärt Dietmar Siegert.
Bildungsferne, Verhaltensauffälligkeit und Armut sind Geschwister. Beim Thema Kinderarmut nimmt Krefeld im Städtevergleich eine traurige Spitzenposition ein, die Zahl der Alleinerziehenden, oft mit mangelnder Erziehungskompetenz und ständig wechselnden Partnerschaften, liegt über Bundes- und Landesschnitt. Warum das so ist? „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, meint Siegert. „Aber in Krefeld gibt es schon seit über zehn Jahren mehr überdurchschnittlich viele Alleinerziehende.“ Der Kinderschutzbund geht im Auftrag des Jugendamtes in Familien, bietet ambulante und sogar teilstationäre erzieherische Hilfen an, erledigt Amtsgänge, derzeit werden 25 Familien betreut.
Birgit August, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Krefeld
Was die Mitarbeiter dabei hinter Krefelder Wohnungstüren erleben, ist für den normalen Mittelschichtler unvorstellbar. „Kinder sind Gewalt ausgesetzt, nicht selten auch sexualisierter Gewalt“, erzählt Dietmar Siegert. „Und das ist es, was die Kinder dann daheim erlernen. Wir sprechen von so-genannten Karrierefamilien, von der fünften Generation Sozialhilfe.“ Niemand dürfe sich wundern, dass psychische Erkrankungen zunähmen.
Und da müssen, findet Birgit August, Land und auch die Stadt Krefeld deutlich mehr tun. „Prävention findet zu wenig statt, weil sie Geld kostet.“ Dabei könne man die Folgekosten ökonomisch scharf durchrechnen. „Wenn Kinder aus diesem Milieu und deren Familien nicht frühzeitig unterstützt werden, dann werden dort auch keine Leistungsträger ranwachsen, sondern Menschen, die später wie Ihre Eltern von den Sozialsystemen partizipieren.“
Die Stadt Krefeld habe sich auch aufgrund des maroden Haushaltes bislang nicht durchringen können, mehr Geld in die frühen Hilfen zu stecken. Pro Jahr stünden etwa 65 000 Euro vom Bund zur Verfügung für Projekte wie Erstbesuche bei Neugeborenen und Erziehungskurse. Außerdem funktioniere das Gieskannenprinzip, mit dem die Jugendhilfe-Mittel über die Stadt verteilt würden, nicht. „Zum Beispiel bekommen alle Schulen die gleiche Summe für Betreuungsangebote. Also die gut situierte Grundschule genauso wie Schulen mit hohem Migrantenanteil und schwacher Sozialstruktur. Das geht völlig an der Realität vorbei.“
Und begünstigt Entwicklungen wie die vom kleinen Max.