Kultur trotz Corona „Endlich“ ist kein Buch für eine flüchtige Lektüre

Krefeld · Liesel Willems hat ein Buch geschrieben für die in diesen Tagen der Entschleunigung wieder möglichen: Mußestunden.

Die Illustrationen im Buch „Endlich“ von Liesel Willems sind von der Künstlerin Anne Kurth.

Foto: Anne Kurth

Als die Krefelder Autorin Liesel Willems im Herbst 2018 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, hatte sie gerade ein neues Buch veröffentlicht. Der Band mit dem Titel „Endlich“ vereint gleich zwei Schwerpunkte ihres literarischen Schaffens: Gedichte und Kurzprosa. Es ist eine Sammlung von Texten, die all jene Themen berühren, die der Autorin wichtig sind. Es geht um alltägliche Beobachtungen, um Rückblicke in die eigene Kindheit, Reflexionen über das Älterwerden, ihre Enkelkinder und Reiseerlebnisse. Es sind also ganz alltägliche Themen, denen Liesel Willems sprachlich sehr feinfühlig und differenziert eine Form gibt.

Sechs Kapitel mit
verschiedenen Schwerpunkten

Die verschiedenen Schwerpunkte verteilen sich auf sechs große Kapitel. Jeder Abschnitt trägt einen Titel, der einer Verszeile entnommen ist. „Vom nie Vergessenen“ erzählt von der Liebe in unterschiedlichen Facetten. Das reicht von einem nur zehn Worte langen Gedicht bis hin zu der Kurzgeschichte „Der Nachbar“.

Ob in der lyrischen Form oder in Prosa, immer erweist sich die Autorin als sensible Beobachterin zwischenmenschlicher Beziehungen. „Vor mir zwei leere Gläser, ein Polster, mit unserer Prägung“ – knapper kann man die jahrelange Vertrautheit zwischen zwei Menschen kaum ausdrücken. Trotz der sparsam gewählten Worte schwingt dabei eine Poesie mit, eine besondere Antenne für menschliche Schwingungen. Auch der Text über den Nachbarn enthält kein Wort zu viel. Die Nachbarn, ein Mann und eine Frau, begegnen sich fast täglich bei ihren Tätigkeiten vor dem Haus und im Garten. Vor allem der Zaun zwischen ihren Gärten wird zum Bindeglied, aber auch zur Grenze und letztlich bleibenden Distanz zwischen den Beiden. „Der Zaun war für sie eine durchschaubare Linie für den Sommer“, heißt es an einer Stelle. Der Winter lässt beide wieder in ihre Häuser und damit in ihre jeweilige Welt zurückkehren.

In dem zweiten Kapitel „Aus dem geflügelten Fenster“ hat Willems Beobachtungen aus dem Alltagsleben verarbeitet. Manchmal sind es nur Momentaufnahmen, die aufblitzen, dann auch Geschichten in sachlichem Ton, die jedoch unter die Haut gehen. Dazu zählt der Text „Die Erfahrung“. Auf einer knappen Seite wird hier in nüchternem Ton von der ungeheuerlichen Rechtfertigung eines Autofahrers erzählt, der ein Kind angefahren hat. Ironie schwingt bei dem Bild des Jungen mit, der „aus dem geflügelten Fenster“ seinen Fuß mit einer durchlöcherten Socke streckt. Er winkt „und lacht uns ins Mäulerzerreißen“.

Eine bildhafte Wortfindung, die wieder in knapper Form eine wesentliche Aussage trifft. Zu diesem Gedicht gibt es, wie an einigen anderen Stellen auch, eine Abbildung. Die insgesamt 20 Zeichnungen hat Künstlerin Anne Kurth dazu gemacht. Nach dem Kinderbuch „Anna ist stark“ ist dies jetzt die zweite Zusammenarbeit der beiden Krefelderinnen.

Wie bereits im ersten Buch hat Anne Kurth keine konkreten Illustrationen gemacht, sondern bestimmte Momente und Stimmungen aus den Texten aufgegriffen und interpretiert. Ihre farbigen Kreide- und Bleistiftzeichnungen zeigen einen ähnlich feinfühligen und zugleich nachhaltigen Ausdruck wie Willems’ Sprache. Insofern ergänzen sich Bild und Text perfekt. Ein weiteres Beispiel für diese gelungene Verbindung ist auf Seite 87 zu finden. Das Gedicht „Gerade hatte sie das Gefühl“ beschreibt das Auftauchen einer Leserin, die in der Welt ihres Buches ganz versunken war. Dieser innige Moment zwischen Verzauberung und allmählicher Wahrnehmung der Realität spiegelt sich in der Zeichnung wunderbar wider.

Willems beschreibt hier eigene Erfahrungen, in denen sich mancher Leser sicher wiederfinden kann. Berührend sind auch die kleinen Geschichten, die Willems von ihren Enkelkindern erzählt. Wie sie mitten aus dem Spiel heraus mit großem Ernst eine tote Kröte im Garten beerdigen oder an der Großmutter „wie der Honig kleben“. Der Titel „Endlich“ spielt neben einer erfüllten Erwartungshaltung auch auf die Endlichkeit des Lebens an. So reflektiert die Autorin über das Älterwerden, von dem ihre Seele aber unberührt bleibt: „Meine Seele kennt keine Uhr, keine Sommer- und Winterzeiten. Sie verbindet Kindheit und Alter, im Bruchteil einer Sekunde.“ Es sind diese sprachlich besonderen Formulierungen, manchmal auch nur einzelnen Worte, die diese Texte so lesenswert machen. Die Sprache ist nur vordergründig sachlich und klar, dahinter verbergen sich stets tiefere Ebenen. Diese muss man erst aufspüren und wird dabei auch manche Entdeckung machen. So findet man ein Wort wie „Meerzeug“ nur noch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Auch an der Formulierung „der vergilbte Schrank“ kann man seine Freude haben. „Endlich“ ist kein Buch für eine flüchtige Lektüre. Es ist ein Buch für etwas, dass es in diesen Tagen der Entschleunigung wieder gibt: Mußestunden.