Der Mensch und die Folgen seines unruhigen Lebens
Im Theater Hintenlinks wird ab Freitag die Inszenierung zu „Tagesbuch eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol gezeigt.
Die Inszenierung zu „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol, auch unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ bekannt, feiert am Freitag im Theater Hintenlinks (THL) Premiere. Gogol wurde am 1. April 1809 in der Ukraine geboren und starb am 21. Februar 1852 in Moskau. Er ist einer der wichtigsten Vertreter der russischsprachigen Literatur in der Ukraine. „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ schrieb er 1835 und handeltvom Ministeriumsmitarbeiter Aksenti Iwanow Propristschin. Er ist der, den alle übersehen, einer, der sich krumm macht und wund läuft, ohne dass es jemanden schert. Er funktioniert wie ein Bleistiftanspitzer. Jeden Tag vor akkuratem Arbeitsantritt liest er die sonderbaren Sprüche, die ihm sein Abrisskalender in der Mietwohnung anzeigt. Neue Spuren tun sich auf.
Propristschins Selbsthass beginnt sich zu relativieren. Er bemerkt Blicke der Tochter des Regierungsbeamten, er vernimmt Stimmen, die aus Hundemäulern kommen und ihm Perspektiven verheißen. Er schält sich wie eine Made aus seinem Kokon und beginnt zu flattern; in die lichte Welt, in den Ruhm, hinein in die vermauerten Wände einer Anstalt. Erst hier, im Grauen der geschlossenen Psychiatrie wird er ausleben, was er insgeheim immer war: der König von Spanien. Propristschin bringt seine Arbeitssituation an die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Heute haben wir den Begriff „Burnout“ dafür erfunden — den gab es zu Zeiten Gogols im 19. Jahrhundert natürlich noch nicht. Die Symptome allerdings scheinen zeitlos zu sein.
Die Inszenierung im THL bricht mit der Dramaturgie des Textes. Die Hauptfigur wird von Beginn an als psychisch krank gezeigt. Im Original und auch in der Bearbeitung des Textes für das Theater von Werner Buhss soll dem Zuschauer zunächst ein scheinbar ganz normaler Mensch vorgeführt werden. Erst mit der Zeit wird der Wahn des Aksenti Iwanow Propristschin deutlich. Gegenüber dem Original verändern sich auch die Schauplätze der Handlung: Neben der Wohnung Propistschins durchläuft der Protagonist in der Inszenierung des THL auch Straßen, fährt Aufzug, befindet sich in seinem Büro. Es entsteht aber gleichzeitig der Eindruck, er befände sich in der Kanalisation der Stadt oder vielleicht von Anfang an in der Psychiatrie, welche das Schlussbild im Originaltext ist. Bühnenbild und Figurenführung lassen letztlich offen, wo Propristschin sich befindet.
Die Inszenierung fokussiert sich auf ein starkes Grundthema: Burnout. Propristschin erscheint hier, retrospektiv, als der erste Burnout-Patient der Geschichte, der Literaturgeschichte. Hinzu kommen in der Inszenierung folgende Aspekte: Der moderne Mensch leidet auch an einer permanenten Optimierungsanforderung. Und: Er findet keine unbeobachteten Ruhepunkte mehr in seinem Leben. Es scheint so, als setze er sich freiwillig ständiger Kontrolle und Beobachtung aus. Er trägt zu dieser unruhigen Lebenssituation selbst aktiv bei, weil er den Zielen einer kapitalistischen Grundordnung folgt. Letztlich geht ihm bei der Gier nach Mehr und dem unaufhaltsamen Weg in die Beschleunigung die Lebensqualität verloren, er entmenschlicht.
Das Bühnengeschehen wird folgerichtig durch verschiedene Überwachungskameras beobachtet, die sogar den letzten — für den Zuschauer sonst nicht sichtbaren Winkel — erreichen. Der Zuschauer folgt dem Geschehen wahlweise über Computerbildschirme oder direkt. Außerdem versucht die Inszenierung die permanente Selbstbespiegelung der Figur durch den Einsatz eines Alter Egos Propristschins zu verdeutlichen — eine Anspielung auf eine denkbare Therapie-Situation Propristschins in der Psychiatrie. Die Ausstattung bedient sich vieler Elemente des Retro-Stils. Der Text stammt schließlich aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wird aber im Theater Hintenlinks zu einer Art Zukunftsvision.
„Alle halten mich für ein Rätsel“, schrieb Gogol über sich selbst — mit 18 Jahren. Entscheidend für seinen schriftstellerischen Erfolg wurde die Begegnung mit dem Dichter Puschkin, den er 1831 in St. Petersburg kennenlernte. Puschkin wies ihm nicht nur den Weg in die russische Literatur, sondern vermittelte ihm des Öfteren Arbeit als Privatlehrer und Universitätsprofessor. Er bereiste mehrere europäische Länder und geriet in eine künstlerische Schaffenskrise. Am Ende erkrankte Gogol an einer schweren Schizophrenie. Die Psychose trieb ihn in ein radikal religiöses Fasten. Gogol starb an den Folgen der Erkrankung im Alter von nur 42 Jahren. Red