Die Kraft der kleinen Geschichten

Beim 19. Literarischen Sommer liest Fikry El Azzouzi im Bischof-Sträter-Haus aus seinem Roman „Sie allein“.

Foto: Andreas Bischof

Eva leitet gemeinsam mit ihrem Freund ein kleines Restaurant im Herzen der belgischen Hauptstadt Brüssel. In ihrer Küche arbeitet Ayoub, ein mysteriöser Belgier mit marokkanischem Migrationshintergrund, dessen komplizierte Jugend ihn noch stets zu beschäftigen scheint. Alltägliche Banalitäten wie der Wechsel eines Reifens und kleine Gespräche, in denen sich beide voller Selbstironie ihrer gegenseitigen Vorurteile entladen, führen dazu, dass sie sich rasch verstehen. Während sich Ayoub und Eva näherkommen, versinkt Belgien in einer sich stetig beschleunigenden Spirale aus rassistisch motivierter, islamophober Gewalt, islamistischem Terrorismus und politischem Populismus rechtsnationaler Parteien.

Was der flämische Autor Fikry El Azzouzi in dem Roman „Sie allein“, der den krönenden Abschluss einer bemerkenswerten Trilogie markiert, verarbeitet, ist brisanter und hochpolitischer Stoff, dem es an Aktualität derzeit insbesondere in Europa nicht mangelt. Anlässlich des 19. Literarischen Sommers, in dessen Rahmen deutsche, niederländische sowie flämische Autoren in verschiedenen Städten in der drei Nationen übergreifenden Region ihre Werke präsentieren, hat Fikry El Azzouzi im Krefelder Bischof-Sträter-Haus Auszüge aus seinem neuen Werk gelesen und sich einem offenen Gespräch rund um die Thematik und seine literarischen und persönlichen Ursprünge geöffnet.

Begleitet wurde er von Ilja Braun, der den zweiten Roman „Wir da draußen“ und den im Jahre 2016 erschienenen finalen Teil aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzte. An diesem Abend darf er neben seiner Funktion als verbaler Übersetzer drei Auszüge aus der deutschen Version, der ein literarischer Eigenwert innewohne, vortragen. Den ersten Abschnitt des Abends liest El Azzouzi jedoch höchstselbst in der Originalsprache. Die Geschichte des Ayoub erzählte er bereits in den vorherigen Romanen, in denen er von dessen Kindheit und Jugend berichtet.

Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive Ayoubs, autobiographisch ist die Reihe allerdings nicht. Die Figur und ihre Erlebnisse seien fiktiv, basieren jedoch im Kern auf den Erfahrungen, die El Azzouzi als junger Belgier mit marokkanischer Herkunft vorwiegend bei Freunden und Bekannten beobachten konnte oder an der eigenen Haut erfuhr. Die ersten beiden Romane thematisierten die Kindheit und Jugend Ayoubs, die stets von dem Gefühl unvollständiger Zugehörigkeit geprägt waren. Im Zuge dessen geriet er gemeinsam mit seinen Freunden, die als Ausgesetzte der Gesellschaft erachtet wurden, auf die schiefe Bahn, von deren Sphären sich Ayoub letztlich loslösen konnte. Nun arbeitet er in einem Brüsseler Restaurant als Küchenhilfe und trägt seinen emotionalen Ballast tief verborgen in seinem Inneren.

Für „Sie allein“ wechselte El Azzouzi die Perspektive, denn er wollte eine humorvolle und starke Frau in das Zentrum der Handlung rücken. So schreibt er nun aus der personalen Erzählperspektive Evas über jene Figur, dessen Charakteristika er über zwei Romane hinaus bereits aufgebaut und ergründet hat. Ein anspruchsvoller Ansatz, dem er gerecht zu werden scheint. Immer mehr ist Eva von dem interessanten, wachen und doch so verschlossenen und eigentümlichen Ayoub fasziniert. Als Ayoub sich bei dem Versuch, Evas Reifen zu reparieren, verletzt und von ihr verarztet wird, merkt Eva, wie schwer es ihm fällt, Schwäche zu offenbaren.

Von seiner Schwester erfährt sie im Verlauf des Buches von der turbulenten Vergangenheit Ayoubs und dessen Welt, die ihr bis zu ihrem Aufeinandertreffen gänzlich fremd war, obgleich beide in demselben Land aufwuchsen. Die Existenz zweier getrennter Lebenssphären sei noch immer ein Problem. Besonders außerhalb der Großstädte käme die Bevölkerung kaum mit Menschen mit Migrationshintergrund in Berührung. Man lebe aneinander vorbei, schildert El Azzouzi die Situation in Belgien. Doch auch in Großstädten führen die sozioökonomische Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund und die kulturellen Unterschiede zu vielschichtigen Problemen.

Die Radikalisierung von jungen Menschen, die gespalten zwischen zwei Nationen oder Kulturen nach Identität suchen, ähnlich, wie es Ayoub zeitweise geschah, sei ein enormes Problem. Eva und Ayoub überwinden ihre kulturellen Differenzen immer wieder aufs Neue und räumen mit Stereotypen auf. Eva kennt Ayoubs Hip-Hop-Songs ebenso wie er über eine CD mit niederländischen Schlagern in seinem Auto verfügt. Eine kleine Avantgarde gegen die reaktionären Kräfte im Landesinneren. Während sich Ayoub und Evas Liebesgeschichte entwickelt, verstetigt sich das Bild eines dystopischen Belgiens, das im Zuge islamistischer Terroranschläge zunehmend von rechtsradikalen Kräften dominiert wird. Ein Szenario, das aufgrund des derzeitigen Popularitätswachstums rechtspopulistischer Parteien und Positionen in Europa nicht ungefährlich sei, sagt der Autor. „Es kann schon sein, dass es sich in diese Richtung entwickelt“, vermutet El Azzouzi.

Trotz der politischen Aktualität und Brisanz des Themas handelt der Roman noch immer vorrangig von der Romanze zwischen Ayoub und Eva. Denn letztlich seien es die unscheinbaren Geschichten, in denen vermeintliche kulturelle Differenzen überwunden werden, die einen großen Unterschied ausmachen und eine Regression in nationalistische Denkmuster verhindern könnten, so der Autor. Die Kraft solcher auf den ersten Blick kleinen Geschichten dürfe man nicht unterschätzen.