Eine Vielfalt der Kulturen hinter den Klischees
Mit dem brasilianischen Stück „Cavalo de Santo“ setzt das Theater seine außereuropäische Reihe fort.
Aus zwei Figuren werden hier viele. Adrian Linke ist Inácio, Nele Jung ist Graça. Aber dann sind sie auch noch ein Priester, eine Polizistin, ein Nationalist, eine afrikanische Gottheit und so weiter. „Cavalo de Santo“ („Pferd des Heiligen“) heißt das Stück, der Titel verweist auf den dramaturgischen Kniff, der hinter der Personenvielfalt steckt.
In Brasilien nennt man so Menschen, in die in ein Geist hineinfährt. Das Theater Krefeld Mönchengladbach setzt mit dem Werk der Brasilianerin Viviane Juguero seine Reihe Außereuropäisches Theater fort, die Krefelder Premiere gab es jetzt in der Fabrik Heeder.
Die Anregung zum Stück stammt von Regisseur Jessé Oliveira, der am hiesigen Theater zum ersten Mal in Europa inszeniert hat. Natur und Zivilisation verschränken sich im Bühnenbild von Lydia Merkel, die auch für die Kostüme verantwortlich ist. Man blickt in ein Wohnzimmer mit Couch, Tisch und Fernseher, Pflanzenteile wuchern von allen Seiten in den Raum hinein. Ein ausgestopfter Papagei in einem Käfig und ein Aquarium mögen für die domestizierte Natur stehen.
Klischees über Brasilien stellt das Stück ernster zu nehmenden Innenansichten der brasilianischen Macher gegenüber? Vielleicht. Inhaltlich verbinden sich die Szenen jedenfalls nicht zu einer übergreifenden Handlung. Musik, farbiges Licht, stummes Spiel, Tanz sorgen für die Übergänge.
Choräle und vor allem immer wieder Samba stehen dabei schon einmal für zwei Kulturen, die in Brasilien aufeinandertreffen. Die christlich geprägte Kultur der europäischen Kolonialherren und die afrikanische Kultur der nach Südamerika verschleppten Sklaven. Die indigene Kultur der Ureinwohner kommt in den Dialogen zur Sprache.
Eine arg verkürzte eurozentrische Sicht bringt Linke als französischer Tourist ins Spiel: „Hier ist die Heimat von Karneval. Alles erlaubt. Ich zahle.“ Ihm setzt sich Jung als Frau zur Wehr, die für den Touristen nicht das leicht zu habende brasilianische Mädchen sein möchte. Eine Szene zuvor war sie schon Grace (nicht Graça), die Inácio offenbar bereits als 13-Jährige missbraucht hat. Nun muss sie sich von ihm als Prostituierte beschimpfen lassen. Ist dieser Machismo typisch brasilianisch?
In einer Szene zu Beginn lässt Inácio einen katholischen Priester abblitzen, der seine Seele retten möchte. Religiös ist der Alkoholiker lieber auf seine Weise. Andauernd opfert er während des Stücks Getränke und Essen den auf einem kleinen Hausaltar versammelten Heiligenfigürchen, in denen sich christliches Äußeres mit religiösen afrikanischen Wurzeln mischt.
Soviel lernt man immerhin aus diesem Stück: Wer von der einen brasilianischen Identität redet, der muss Faschist sein. Jung darf mit Hitlerfrisur ein Integrationsziel beschwören, das dem Autoren-Regie-Gespann nicht geheuer scheint: „Wir vermischen die Rassen und hellen auf.“
Die Einebnung der Unterschiede unter Verleugnung ihrer Herkunft zugunsten eines selbstverständlich hellhäutigen Hybridideals — dem widersetzt sich Linke als Rei Momo (König Momo). Er verkündet Religions- und Meinungsfreiheit und tanzt Samba dabei. Das eine Brasilien gibt es nicht, und hinter den Klischees steckt eine Vielfalt von Kulturen, die schon wieder eine neue Vielfalt von Mischformen hervorgebracht hat.
Korruption und Frauenverachtung gehören zum Alltag, aber das sind gesellschaftliche Probleme, die jenseits der Vielfalt vielleicht auch einfach nur mit der nicht typisch brasilianischen Dominanz der Männer zu tun haben.
Am Ende anerkennender Applaus für ein Stück, das den Schleier der Klischees lüftete, um das Publikum allerdings mit vielen offenen Fragen zurückzulassen.