Barrierefreiheit Selbstversuch: Im Rollstuhl durch Krefeld
Krefeld. Den ersten echten Frust habe ich auf der Toilette. Es ist viel zu eng, obwohl es barrierefrei ist. Würden meine Beine nicht funktionieren, könnte ich mich niemals alleine aus meinem Rollstuhl heraus auf den Toilettensitz hieven.
Ich kann mich nicht richtig drehen, die Tür öffnet nach innen, ich bin überfordert. Erst nach etwas Rumprobieren komme ich überhaupt wieder heraus.
Einen ganzen Tag versuche ich nachzuempfinden, wie es ist, als Querschnittsgelähmter zu leben. Bei meinem Selbstversuch unterstützt mich Claudia Dässel, die seit ihrem 14. Lebensjahr — nach einem schweren Autounfall — im Rollstuhl sitzt.
Die heute 36-Jährige arbeitet bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle und vermittelt dort Menschen mit chronischen Erkrankungen an Selbsthilfegruppen. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg durch Krefeld, so wie sie es an einem ganz normalen Tag auch täte. Startpunkt ist die Straßenbahnhaltestelle am Ostwall/Ecke Rheinstraße. Die Schienen wirken für mich als Unerfahrenen bedrohlich, aber wir rollen problemlos drüber hinweg — der Bordstein ist auch schön flach und selbst in die Straßenbahn könnten wir jetzt einfach hineinrollen. Doch wir wollen über die Rheinstraße in die Fußgängerzone — nach kurzer Zeit spüre ich meine Arme. „Leicht abschüssige Gehwege sind total nervig“, sagt Claudia Dässel — das kann ich nur unterschreiben.
Der Grund: Um geradeaus zu fahren, muss man mit der einen Seite anschieben und mit der anderen Seite abbremsen. Das ist unheimlich anstrengend und unentspannt. Was ich da noch nicht weiß: Am Abend werde ich davon trotz Handschuhen eine Blase an der rechten Hand haben.
Vorbei geht es an verschiedenen Geschäften, in dir wir ohne fremde Hilfe nicht rein kommen würden. „An vielen Stellen könnte die Barrierefreiheit mit wenig Aufwand verbessert werden“, stellt Dässel fest. Der Zugang zu einem Bäcker und einer Apotheke bleibt uns versperrt. „Das ist schade, weil man ja eigentlich so viel wie möglich alleine machen möchte“, bedauert die 36-Jährige.
Im Schwanenmarkt sieht die Situation besser aus. Der glatte Boden ist herrlich und lässt sich wunderbar befahren. „An zwei Drittel der Produkte komme ich hier alleine ran“, sagt Claudia Dässel im Drogeriemarkt. Es gebe Menschen, die seien viel fitter als sie selbst, andere seien aber auch eingeschränkter. „Gerade mit einem elektrischen Rollstuhl ist es schwerer, weil der breiter und weniger wendig ist.“ Beim Einkaufen treffen wir Hans Köhler und wechseln ein paar Worte mit ihm.
„Ich habe MS und sitze seit einem Jahr im Rollstuhl“, erzählt er. „Unzufrieden bin ich deshalb nicht — ich komme klar und kann meine Frau ärgern.“ Wer Hilfe braucht, sollte keine Hemmungen haben, zu fragen Vom Schwanenmarkt fahren wir auf Umwegen zum Rathaus. Auf dem Weg treffen wir immer wieder auf Hindernisse. Einmal bitten wir zwei Frauen, uns einen hohen Bordstein hinab zu helfen. „So wie man in den Wald rein ruft, so kommt es auch wieder raus“, sagt Dässel.
Die meisten Menschen seien hilfsbereit. Aber man müsse auch zeigen, wenn man Hilfe benötigt. „Wer nur vor dem Bordstein steht und schimpft, darf nichts erwarten.“ Das Rathaus selbst ist ganz barrierefrei, die meisten Büros können wir erreichen. Die Menschen begegnen uns sehr zuvorkommend. Generell werden wir an diesem Tag überraschend oft freundlich angesprochen. Wir begegnen auch Bekannten und Arbeitskolleginnen von Claudia Dässel. „Die meisten meiner Freunde können laufen. Auch mein Freund sitzt nicht im Rollstuhl“, erzählt Dässel.
Dann schlägt sie vor, wovor ich mich den ganzen Tag gefürchtet habe: eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir suchen uns eine S-Bahn-Haltestelle. Wegen einer Baustelle ersetzt ein Bus die Bahn. Der Fahrer klappt für uns eine Rampe aus. „Bitte einmal alle Platz machen!“, weist er die Fahrgäste an, schiebt uns in den Bus. Gar nicht so schlimm wie befürchtet. „Ich fahre lieber Bus als Bahn“, verrät Dässel. „S-Bahnfahrer sind nicht verpflichtet, eine Rampe auszufahren, wenn die Haltestelle nicht als barrierefrei ausgezeichnet ist.“ Dafür habe sie kein Verständnis.
„Wenn mir beim Einsteigen was passiert, haftet die Bahngesellschaft eh nicht — was soll das also?“ Während unserer Tour fallen wir auf. Menschen schauen uns an, ohne zu starren. Es ist nicht unangenehm, aber man merkt es. Ab und zu sind es auch mitleidige Blicke. „Es kommt oft vor, dass man von Beginn an geduzt wird oder dass Menschen mit einem wie mit einem Kind reden“, berichtet Dässel. Direkte Anfeindungen habe sie noch nie erlebt, wohl aber abschätzige Bemerkungen im Allgemeinen.
„Ich mag das Wort Behinderung nicht. Das ist leider extrem negativ behaftet. Ich finde Handicap schöner“, verrät sie. Ich persönlich mache an diesem Tag nur eine echte negative Erfahrung: Eine Frau flieht buchstäblich, als ich versuche, sie anzusprechen. Mein Fazit: Es fühlt sich gut an, am Ende des Tages aufzustehen und sich zu strecken. Ich spüre, dass ich am nächsten Tag wohl Muskelkater haben werde. Zum Rollstuhlfahren benötigt man alle Muskeln des Oberkörpers und Rumpfs.
Ein Leben im Rollstuhl ist anstrengend, und Barrierefreiheit nicht überall angekommen. Ich habe die Herausforderungen für einen Tag gemeistert. Aber im Gegensatz zu Claudia Dässel und anderen gehe ich danach als Fußgänger nach Hause.