Heimarbeit: 30 Minuten für einen Binder

Näherin: Fleißig und zuverlässig muss eine Heimarbeiterin sein, sagt Helga de Rath. Krawatten sind das Leben der 67-Jährigen.

Krefeld. Helga de Rath erinnert sich noch gut an ihren ersten Berufswunsch. "Eigentlich wollte ich Frisöse werden". Doch nur knapp 1,40 Meter groß, kam die 14-Jährige "kaum an die Köpfe". So steuerte sie eine Lehre als Krawattennäherin an, die sie am 1. April 1955 bei "Astor"-Krawatten auf dem Ostwall in Krefeld begann. Eine (Lehr-)Zeit, in der es vom Meister auch schon mal einen Knuff ins Kreuz gab, wenn die Lehrmädchen nicht kerzengerade an der Maschine saßen.

"In schwarzem Kittel mit weißem Kragen, so hatten wir unseren Dienst anzutreten", blickt die damalige Helga Heller zurück. "Und der Fingerhut war Pflicht!" Über dieses "störende Ding" habe sie geheult. "Er hat mich damals bei meiner Arbeit irgendwie behindert." Deshalb hat Helga de Rath nach ihrer Lehre als Erstes den Fingerhut ausgezogen - und bis heute nie mehr angezogen.

Mit Krawatten ist die gebürtige Leipzigerin groß geworden, weil sich im Leben ihrer heute 82-jährigen Mutter, Martha Heller, letztlich auch alles um die Krawatte drehte. "Irgendwie war es total selbstverständlich, dass meine Mutter als Heimarbeiterin etwas zum elfköpfigen Familienhaushalt hinzu verdiente. Der Papa hat gekocht, Oma hat gewaschen, und als Älteste von Neunen habe ich natürlich auch mit Hand angelegt", erzählt Helga de Rath, wie sie die "Möhnchen" an die Seidenfliegen "getackert" hat. Möhnchen, das sind jene Haken, mit denen die Männer ihre Fliegen am oberen Hemdknopf befestigen.

Als Kinderarbeit ist ihr die Mitarbeit daheim nicht in Erinnerung geblieben: "Nein, wir hatten schon eher das zufriedene Gefühl, gemeinsam an einem Strick - in diesem Fall war es die Krawatte - zu ziehen!" Mutter Martha Heller bezog ihre Krawatten von Lankers an der Peterstraße. Der Betrieb belieferte seine Näherinnen nicht. Deshalb fuhr Martha Heller einmal in der Woche von Oppum mit der Straßenbahn nach Krefeld, um sich ausreichend mit Heimarbeit einzudecken.

Später rollte Tochter Helga mit dem eigenen Kinderwagen an, der über den Achsen der Räder mit einem oder zwei mit Krawatten gefüllten Kartons beladen wurde. Bis zur Geburt ihrer ersten Tochter im Jahr 1966 hatte Helga de Rath (inzwischen mit Ehemann Erwin getraut) selbst im Betrieb Lankers als Krawattennäherin gearbeitet.

Als Tochter Birgit rund zwei Jahre alt war, bewarb sich Helga de Rath auf eine Zeitungsanzeige bei der Firma Pasch auf dem Deutschen Ring (in Nähe des einstigen Arbeitsamtes) als Heimarbeiterin. "Die Kinder (später kam ein Sohn dazu) haben nie unter meiner Heimarbeit gelitten!" Dies sei alles nur eine Frage der Organisation gewesen.

Ihr Tagesablauf begann gegen 7.30 Uhr damit, in den neuen Karton zu blicken, der morgens von Pasch geliefert wurde. "Ich habe mir einen ersten Überblick darüber verschafft, was heute anfällt." Den Tag widmete sie aber zunächst den noch nicht schulpflichtigen Kindern, kochte und kümmerte sich um den Haushalt.

Mit der Heimarbeit begann sie dann meist abends gegen 20 Uhr. Wenn es Eilaufträge zu bewältigen galt, "dann habe ich auch schon mal die ganze Nacht durchgemacht", erinnert sie sich daran, vielfach erst im Morgengrauen die Krawatten vor der nahenden Abgabe gebügelt zu haben.

Während zahlreiche Krefelder Heimarbeiterinnen nur an einem der verschiedenen ZwischensSchritte beteiligt waren, die zur heimischen Krawattenherstellung nötig sind, konnte sie mit ihrer professionellen Ausbildung eine Krawatte komplett in Heimarbeit anfertigen. Rund 30 Minuten Fertigungszeit sind für einen noblen "Hohlbinder" anberaumt, den man unter anderem daran erkennt, dass der Krawattenstoff sich passgenau um die Einlage rankt: Diese Handarbeit setzt ein zeitaufwendiges Abstecken des Stoffes voraus.

"In guten Monaten - so vor Weihnachten - konnten es schon mal bis zu 500 Mark sein", erzählt Helga de Rath. Aber es gab auch Wochen, wo rein gar nichts los war; häufig wechselnde Phasen, die mit Ab- und Anmeldungen beim Arbeitsamt einher gingen ("Stempelgeld").

Inzwischen mit 67 im Rentenalter, denkt die fleißige Heimarbeiterin noch längst nicht an den wohlverdienten Ruhestand. Im Gegenteil: Seit den 80er Jahren hat sie ein Bein in der Firma Ascot, wo sie an bestimmten Tagen den Einsatz der Heimarbeiterinnen organisiert. Und was sind die typischen Eigenschaften einer Heimarbeiterin? "Sie muss fleißig, schnell und zuverlässig sein und im unmittelbarem Umfeld auf großes Verständnis stoßen!"