Helfen ohne Hemmschwelle

Nicole Hahnke macht ein Praktikum in einer Einrichtung der Lebenshilfe. Dort lernt sie viel über sich und andere.

Krefeld-Uerdingen. Zuerst war sie ein bisschen schüchtern und vorsichtig. Sie hatte keine Ahnung, was da auf sie zukommt und jede Menge Fragen im Kopf. Wie würden die Menschen auf sie reagieren? Könnte es Verständnisprobleme geben? Aber dann ging alles ganz schnell, die Unsicherheit war schon nach wenigen Stunden verflogen. Nicole Hahnke hat gemerkt, dass das, auf das sie sich da eingelassen hat, irgendwie ihr Ding ist: Sie macht ein Praktikum beim Uerdinger Treff.

Mehrmals pro Woche kommen dort Menschen mit geistiger Behinderung zusammen, um miteinander zu spielen, zu essen, zu reden. Jeder kann in den gemeinsamen Stunden ganz er selbst sein — ob ein Gast Musik hören und dazu tanzen, Gemüse schnippeln oder ein Fußbad nehmen möchte: Das entscheidet er allein. „Das hat mich sofort beeindruckt“, sagt die 18-Jährige. „Ich finde es gut, dass hier Zeit genug ist, um auf die Bedürfnisse der Gäste einzugehen.“

Die seien letztlich dieselben wie die der so genannten „normalen“ Menschen. „Alle kennen die gleichen Sehnsüchte nach Liebe, Freundschaft und Wärme“, sagt Nicole. „Ein Gast hat sich für 2011 sogar einen romantischen Abend gewünscht.“ Beim Uerdinger Treff ist all das möglich: Die Räume sind hell, großzügig und modern. Mittelpunkt des größten Zimmers ist ein riesiger Tisch, an dem die Gäste spielen und essen; doch es gibt auch Rückzugsräume. Wer einfach mal allein sein möchte, kann es sich in einem gemütlichen Nebenzimmer auf der Couch gemütlich machen oder — zumindest im Sommer — die große Terrasse nutzen. Nicole kennt sich, obwohl sie erst in der zweiten Woche zum Uerdinger Treff kommt, überall sehr gut aus, die Abläufe sitzen, der Kontakt zu den Gästen wirkt vertraut.

Sie besucht die 11. Klasse der Montessori-Gesamtschule, wo ein dreiwöchiges Sozialpraktikum auf dem Lehrplan steht. Da ihre Mutter in der Verwaltung der Lebenshilfe arbeitet, war der Uerdinger Treff als Praktikumsstätte naheliegend.

„Eigentlich sind drei Wochen ein ziemlich kurzer Zeitraum“, sagt Henny Zanders-Bobis, Leiterin des Uerdinger Treffs. „Aber für erste Erfahrungen in diesem Arbeitsbereich reicht es.“

Ob Nicole nach dem Abitur einen Beruf ergreifen möchte, bei dem sie mit Behinderten arbeiten kann, weiß sie jetzt noch nicht. „Aber hier ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen oder ehrenamtlich zu arbeiten, kann ich mir auf jeden Fall vorstellen“, sagt sie. Der Umgang mit Menschen liegt ihr, und vor allem die besondere Herzlichkeit der Behinderten hat es ihr angetan. „Sie interessieren sich wirklich füreinander, sie umarmen sich viel, sind total liebevoll“, sagt sie. „Und wenn es mal Konflikte gibt, wird sofort darüber gesprochen.“ Für die meisten Menschen, die sie sonst so kennt, sei das alles andere als selbstverständlich.

Hin und wieder ärgert sich Nicole darüber, wie manche Leute in Alltagssituationen auf behinderte Menschen reagieren. „Einmal habe ich einen Bewohner in der Straßenbahn nach Hause begleitet, der ein bisschen verhaltensauffällig ist“, erzählt sie. Er gebe hin und wieder seltsame Geräusche von sich und verliere ein bisschen Speichel. „Da wurde über ihn getuschelt und gelacht“, sagt Nicole. Das hat sie sehr getroffen: „Er hat das ja mitbekommen.“

Sie wünscht sich, dass die Menschen ihre Hemmschwellen gegenüber Behinderten abbauen und sie als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft respektieren, wie sie auch selbst respektiert werden wollen. Und dann geht sie zu Ursula und Inge (Namen geändert) in den großen hellen Aufenthaltsraum des Uerdinger Treffs und spielt mit ihnen eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“. Denn das ist es, worum es ihr geht. Hemmschwellen? Hat sie längst nicht mehr.