Unbekannte Form der Demenz: Wenn Männer plötzlich ihrer Frau an die Gurgel gehen
Die Frontotemporale Demenz ist selbst bei Ärzten noch wenig bekannt. Die jüngeren Patienten werden hemmungslos und stumpfen zusehends emotional ab.
Krefeld. Menschen mit Frontotemporaler Demenz sind hemmunglos. Zunächst werden sie immer aggressiver, vernachlässigen sich und ihre Arbeit, nehmen anderen Menschen einfach Dinge weg, die sie selber haben wollen. Mit der Zeit stumpfen sie emotional ab, der Hang zu schmutzigen Witzen nimmt zu, und einzelne Handlungen werden zwanghaft. Die immer deutlicher werdenden Reaktionen ihrer Umwelt beziehen sie dennoch nicht auf sich. „Häufig wird diese neurodegenerative Erkrankung noch mit Schizophrenie oder manisch-depressiver Neurose verwechselt“, erklärt Dirk Bahnen.
Während die Symptome bei Alzheimer fast jedem bekannt sind, ist das bei der Frontotemporalen Demenz nicht der Fall. „Obwohl dabei Nervenzellen im Stirn- und Schläfenbereich abgebaut werden, ist der Name Demenz eigentlich irreführend, denn nicht das Gedächtnis und die Orientierungsfähigkeit des Betroffenen lassen nach, sondern die Persönlichkeit und das soziale Verhalten verändern sich“, sagt der Leiter der Beratungsstelle für Alterserkrankungen der Alexianer GmbH. Auch setzt die Erkrankung im statistischen Durchschnitt bereits zwischen 50 und 52 Jahren ein, in manchen Fällen auch schon viel früher. Deshalb findet Bahnen den Namen Morbus Pick oder Pick’sche-Krankheit treffender, der auf den Entdecker der Erkrankung, den Neurologen Arnold Pick zurück geht.
1,5 Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Demenz, zehn Prozent von ihnen an der Frontotemporalen Demenz. Dennoch ist die Diagnose laut dem Experten Prof. Hans Förstl von der TU München, den Bahnen zitiert, noch immer für die meisten niedergelassenen und klinischen Ärzte ein großes Problem. Bis heute gebe es keine medikamentöse Therapie. „Fälschlicherweise werden Neuroleptika verabreicht, die schwere Nebenwirkungen zeigen, zur Bettlägerigkeit bis hin zum Tod durch eine Lungenentzündung führen können“, erklärt Bahnen.
Sibylle Konrads (Name von der Redaktion geändert) hat das selbst erlebt. Sie tippte zunächst auf einen Gehirntumor, als ihr bis dahin friedfertiger Ehemann sie begann anzugreifen, unflätig und zwanghaft zu werden. Die Polizei nahm ihn mit, er landete in einer anderen Stadt in der Psychiatrie, musste fixiert werden, bekam verschiedene Medikamente. Die Scheidungspapiere hatte sie nach den nervenzermürbenden zurückliegenden langen Monaten schon auf dem Tisch.
Erst eine Einweisung ins Krefelder Alexianer bescherte ihr eine plausible Erklärung. Die dortige Diagnose lautete: Frontotemporale Demenz. Gewissheit bescherte letztendlich eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET), das einzige bildgebende Verfahren, das genauere Auskunft über den Nervenschwund im Stirn- und Schläfenbereich (im Frontal- und Temporallappen) bisher geben kann.
„Bisher gibt es keine ambulanten Hilfsangebote und auch in den Heimen, die solche Kranken aufnehmen, sprengen sie schließlich mit ihrem zügellosen Verhalten jede Gruppe“, berichtet Bahnen. Seine Kollegen schauen sich derzeit die einzige existierende stationäre Einrichtung im dänischen Kopenhagen an, die sehr erfolgreich mit Heilpädagogen, Alten- und Krankenpflegern arbeitet und das Prinzip klarer Strukturen, fester Regeln und Belohnung guten Verhaltens anwenden.
Bahnen kennt inzwischen aus unzähligen Gesprächen die Not der Angehörigen — und er versucht, sie ein Stück zu lindern. Dazu hat er vor zwei Jahren eine Angehörigengruppe ins Leben gerufen, die einzige NRW-weit. Inzwischen gibt es bereits zwei verschiedene Gruppen, die sich zweimal im Monat um 9 Uhr bzw. um 19 Uhr im Alexianer treffen. „Ohne diese Hilfe würde ich verrückt“, sagt eine der teilnehmenden Frauen.