„Bei Johannes“ Wie ein Laden in Krefeld-Oppum der Supermarkt-Konkurrenz trotzt

Krefeld · Ein Besuch im Lebensmittelgeschäft der Donksiedlung in Krefeld-Oppum kann einem vorkommen wie eine Zeitreise. Unser Autor hat es ausprobiert und unter anderem erfahren, warum es das Geschäft trotz harter Supermarkt-Konkurrenz immer noch gibt.

Johannes Schroers mit Schutzmaske in seinem Lebensmittelgeschäft in der Krefelder Donksiedlung.

Foto: wz/Endermann

Sehr wahrscheinlich ist es nicht, dass es den Laden gibt. Dort, wo sich in Oppum Langen Donk und Fungendonk kreuzen. Es ist sogar so unwahrscheinlich, dass man zunächst daran vorbeifährt und sich dann wundert: Moment, so was gibt es noch?

Also noch mal genauer hinschauen. Ein Dienstagvormittag Ende Mai. In den Fenstern hängen Pappen in knalligen Farben, auf denen handschriftlich deutscher Spargel, neue Kartoffeln und Königshofer Pils beworben werden. Über die rechte der beiden verblassten Markisen zieht sich ein langer Riss. Wie lange es diesen Laden schon gibt, davon erzählt die Treppe, die über vier Stufen hinaufführt. An vielen Kacheln ist ein Stück abgebrochen, in einigen Rissen wächst Unkraut. Am Eingang hängen die Öffnungszeiten. Täglich von 7.30 Uhr bis 13 Uhr, freitags auch von 15 bis 18 Uhr, sonntags geschlossen.

Erst mal reingehen und umsehen. Was genau ist das eigentlich? Es ist kein Kiosk, denn ein Kiosk führt kein Obst und Gemüse und eine Fleischtheke hat ein Kiosk auch nicht und eine Kühltheke für Milchprodukte und Brötchen und Kuchen vom Bäcker. Aber für einen Supermarkt ist der Laden viel zu klein. Das kennt man nur noch... genau, von früher. Und dort ist der Laden auch stehengeblieben, irgendwo in den 70ern. Alt, nicht auf alt gemacht. Die Fliesen erinnern ans Schulklo in der Grundschule. Als ob hier nur ersetzt wird, was kaputt ist, nicht, was aus der Zeit gefallen ist. „Ein heller Kopf nimmt Dr. Oetker“ steht an einem Regal.

Es ist alles zu haben wie im Supermarkt, auch Bulgur und Couscous, aber eine Sorte, nicht drei. Manchmal dort, wo man es nicht vermutet. Die Batterien liegen neben den Q-Tips, die Grillwurst liegt in derselben Truhe wie Eis und Brot, weil es eben nur diese eine Truhe gibt. Die kalten Getränke stehen nicht in einem Kühlschrank, sondern in Kisten im Kühlregal. Die Geburtstagskarten liegen ein Regal unter dem Lenor. Hier denkt jemand praktisch, nicht ästhetisch. Die Dinge kommen nicht immer dorthin, wo sie hingehören, sondern wo noch Platz ist. Manches wird sicher nie verkauft wie die Kaffeemaschine fürs Auto ganz oben auf dem Regal. Alkohol gibt es reichlich, eine ganze Wand voll.

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, warum es diesen Laden noch gibt, obwohl es Supermärkte gibt, stellt sich einfach mal in die Ecke, hört hin und sieht zu. Auftritt Inge, die gerade hinter der Wurst- und Käsetheke steht, wo es auch das Roastbeef und den Schweinebraten gibt. Beides grillt Inge morgens noch selbst, die Leute legen sich das Fleisch in dünnen Scheiben aufs Brot. Die 63-Jährige ist vor zehn Jahren von Real hierhin gewechselt. Kommt jemand mit Erdbeeren zu ihr, fragt sie, ob die schon gewogen sind, sonst mache sie das eben auf der Fleischwaage. Weil sie an diesem Vormittag die einzige Mitarbeiterin im Laden ist, geht sie zur Kasse am Eingang, um mit der Hand die Beträge für einen Einkauf einzutippen. Derweil geht sie ans Telefon. Dann ist erst mal eine Weile Ruhe. Bis sich eine Frau ohne Maske mit einer Schale Erdbeeren vor die Tür stellt. Inge öffnet. Die Frau hätte gerne die Erdbeeren und noch Sahne dazu. Macht Inge. So geht das munter weiter. Eine Frau fragt: „Der Kuchen ist von heute?“ Inge sagt: „Alles, alles.“ „Gibt‘s noch was Gehacktes?“ „Nein... Hallo Helga.“ Der Laden wird wieder voller. Eine Frau sagt „Inge, ich spring eben ein“ und geht zur Kasse. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich nur vorbeikommen wollte, um Erdbeeren zu holen. Ein Handwerker bestellt ein Mettbrötchen, Inge schmiert. Den nächsten fragt sie: „Berni, wie viel Scheiben kriegst du?“

Eine halbe Stunde, und man ahnt, weshalb es diesen Laden noch gibt. Wer es genauer wissen möchte, muss mit Johannes Schroers sprechen. Schroers, 68, sieht ohne Maske freundlicher aus, weil sie seinen grauen Schnurrbart versteckt. Seine Eltern waren noch mit der Kutsche durch die Gegend gefahren, um die Milch von ihrem Bauernhof zu verkaufen. 1955 übernahmen sie einen Lebensmittelladen in der Donk-Siedlung, knapp 45 Quadratmeter, und zogen oben drüber ein. Nach einigen Jahren verkauften sie nicht nur Lebensmittel, sondern alles, was die Leute brauchten. Die Donk-Siedlung war damals im Gegensatz zu heute eine Gegend für arme Leute, die Häuser mit den großen Grundstücken waren in den 30er Jahren hochgezogen worden für arme Familien, die sich mit ihren großen Gärten selbst versorgen sollten. Supermärkte gab es noch nicht, dafür Bäcker, Metzger, Tante-Emma-Läden.

1957 eröffnete der erste Supermarkt in Deutschland, und als Johannes Schroers 1975 das Geschäft von seinen Eltern übernahm, nicht mal Mitte 20, da war ihm nicht ganz klar, wie riskant das war. Auch in Krefeld gab es längst Supermärkte, nur wenige Minuten entfernt den späteren Real-Markt, der auch den Eltern schon schwer zu schaffen gemacht hatte. Später kamen noch Edeka, Rewe, Aldi hinzu, alles nicht weit weg. Größeres Angebot, günstigere Preise, wie sollte ein kleiner Laden damit konkurrieren?

Schroers änderte gar nicht so viel, sogar das Schild mit dem Namen seines Vaters am Eingang ließ er hängen. Einmal vergaß ein Kunde seinen Spazierstock, vor Ewigkeiten, der steht noch heute im Schirmständer hinter der Kasse. Immerhin vergrößerte er den Laden auf 110 Quadratmeter. Seine Frau Gundi richtete im selben Gebäude einen Partyservice ein, das zweite Standbein der Familie. Wenn man Schroers fragt, was anders ist als vor 45 Jahren, sagt er bloß: Die Produkte sind unehrlicher als früher. Dann schimpft er auf die heutigen Verpackungen. Was die so alles versprechen. Schroers ist niemand, der sich freudig auf Trends stürzt. Smoothie spricht er „Smutie“ aus. Als alle länger öffneten, ließ er es bleiben. Seit einigen Jahren hat der Laden nur noch bis mittags geöffnet, bloß am Freitag auch für drei Stunden am Nachmittag. Er braucht die Zeit, um seiner Frau beim Partyservice zu helfen. Eine Internetseite hat seine Geschäft nicht, es hat nicht mal einen Namen. „Bei Johannes“ sagen die Leute.

Das sagt viel darüber aus, weshalb noch immer trotz Konkurrenz so viele Leute ins Geschäft kommen, dass die Kasse stimmt. Bei einem Warenkorb von 100 Euro im Supermarkt zahlen sie bei ihm acht bis zehn Euro mehr, schätzt Schroers. Aber bei ihm haben die meisten Leute Vornamen. Verkäufer und Kunden. Das Einkaufen ist keine anonyme Angelegenheit auf 10 000 Quadratmetern, sondern ein Wiedersehen, ein kurze Abwechslung im Alltag mit persönlicher Betreuung. Weniger Auswahl, mehr Austausch. Schroers sagt, hier könne sich auch der Dreijährige allein einen Lutscher kaufen, im Supermarkt wäre das nicht möglich. Samstags trifft sich hier die Männerwelt der Donk-Siedlung zum Quatschen. „Die Leute sind bodenständiger, sie haben Gemüse noch wachsen sehen“, sagt Schroers. Wenn er den Rosenkohl am Strauch anbietet, dann kaufen die Leute den auch mit Strauß, berichtet er, weil der Rosenkohl dann länger hält. Das Gemüse kommt aus der Region, und wenn es gerade keinen Weißkohl aus Deutschland gibt, dann gibt es bei ihm auch keinen aus Südeuropa. Das ist wie auf dem Markt.

Die Kunden sind tolerant, sie warten auch mal länger an der Wursttheke oder an der Kasse. Dafür macht Schroers möglich, was möglich ist. Bringt mal die schweren Getränkekisten, die Einkäufe zum Auto oder gleich nach Hause. Das hat er schon gemacht, bevor Supermärkte das systematisch anboten. Die Leute können auch am Wochenanfang einen Zettel aufschreiben mit den Dingen, die sie am Wochenende brauchen. Was er nicht da hat, bestellt er. Nach Feierabend anrufen ist auch mal drin, wenn was ist. Schroers wohnt nur ein paar Hundert Meter vom Laden entfernt. Es gibt Kunden, die sind längst weggezogen, aber wenn sie zu Besuch sind, kaufen sie zehn Packungen von diesem ganz bestimmten Schwarzbrot, fahren zurück nach Frankfurt und frieren es ein. Schroers tippt, dass er 75 Prozent Stammkunden hat. Wer diese fragt, was sie an dem Laden schätzen, dem erzählen sie dasselbe wie Schroers, wobei sie von ihm so schwärmen, wie er über sie.

In Corona-Zeiten zahlt sich dieses Vertrauen aus. Sicher, die meisten Supermärkte profitieren gerade auch von der Krise, weil die Leute mehr zu Hause sind, weniger Essen gehen, weniger in der Kantine essen, die Kinder mittags bekochen müssen. Aber vielleicht profitiert Schroers noch ein bisschen mehr. Es ist von Vorteil, einen  Laden zu haben mitten in einem Wohngebiet, wenn alle plötzlich zu Hause sitzen. Besonders wenn der Laden so klein ist, dass die Leute schnell rein- und wieder rausgehen können. Sie können sogar von draußen sehen, ob schon jemand drinnen ist. Viel besser, als durch die Menschenmenge im Supermarkt zu laufen. Schroers schätzt, dass die Einnahmen um 20 Prozent gestiegen sind.

Die Familie war selbst von Corona betroffen, Ehefrau Gundi eine Art Patient Null in Krefeld. Sie gehörte zu jenen, die das Virus aus Ischgl mitbrachten. Acht Wochen kurierte sie daran. Johannes ging vier Wochen in Quarantäne, schlief in einem anderen Zimmer, steckte sich tatsächlich nicht an, obwohl sie sich sonst in denselben Räumen aufhielten, und kehrte schließlich in den Laden zurück. Toilettenpapier hatte er auch in der Hochphase der Hamsterkäufe. Als das Mehl knapp wurde, kaufte er es in großen Säcken bei einem befreundeten Bäcker, die Hefe besorgte er dort auch. Da ist er flexibler als der Filialleiter eines Supermarkts. Da zahlen sich die über Jahrzehnte gewachsenen Beziehungen zu seinen Lieferanten aus. Die könnten auch ein Grund sein, warum er glaubt, sein Arbeitstag dauere bloß acht Stunden, obwohl seine Frau das für deutlich untertrieben hält. Denn wenn er zum Erdbeerbauern fährt, den er seit einer halben Ewigkeit kennt, dann kann er nicht einfach die Erdbeeren einladen und sofort wieder fahren. Das macht den Arbeitstag länger, aber auch angenehmer.

Am Ende wird nicht die Konkurrenz entscheiden, wann er seinen Laden zumacht, sondern Schroers selbst. Geht er in den Ruhestand, dann war‘s das auch fürs Geschäft. Die Schroers‘ haben drei Töchter und neun Enkel, geholfen haben sie alle schon mal im Geschäft, viele haben sich ein Taschengeld verdient — aber Ansprüche auf die Nachfolge hat niemand angemeldet. Auch keiner der 15 Lehrlinge, die bei ihm gleich vom ersten Tag an alles machen durften und mussten. Gern würde Schroers noch die 50 Jahre vollmachen.

Aufhören könnte er bereits jetzt. Seine Frau macht den Eindruck, als wäre sie sehr dafür. Aber sie weiß auch, was ihm an dem Geschäft liegt. Weihnachten sitzen sie mit 17 Leuten im Wohnzimmer, Töchter, Enkel, Schwiegersöhne. Doch die Familie ist viel größer. Schroers sieht sie täglich, vor und hinter der Theke.