Begraben im Kanalschacht - Kassandra-Prozess beginnt
Velbert. Was die kleine Kassandra aus Velbert durchmachen musste, ist unfassbar. Erst schlägt ihr Peiniger einen Stein in ihr Gesicht, dann stopft er die lebensgefährlich verletzte Neunjährige in einen Kanalschacht und zieht den rund 30 Kilogramm schweren Deckel über das Loch.
Halbtot liegt das Mädchen unter der Erde, es regnet stark, das Wasser im Schacht steigt. Nach einem Großeinsatz mit 100 Polizisten wird Kassandra sieben Stunden später, mitten in der Nacht, gerettet. Ihr Leben verdankt sie dem Spürhund "Christo", der das stark unterkühlte Mädchen in dem engen Schacht entdeckt hat.
Erschütternd ist auch die Festnahme eines Tatverdächtigen im Herbst 2009: Der mutmaßlichen Peiniger war zur Tatzeit erst 14 Jahre alt. Von Mittwoch an steht der inzwischen 15-Jährige nun in Wuppertal vor Gericht. Von dem Indizienprozess, in dem viele Fragen offen sind, ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. 17 Verhandlungstage hat das Landgericht angesetzt. Dutzende Zeugen sollen gehört werden. Dem Jugendlichen wird versuchter Mord vorgeworfen. Dafür droht ihm eine Jugendstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren.
Tagelang lag Kassandra nach der Rettung in einem künstlichen Koma. Erst zwei Monate nach der Tat konnte das Mädchen die Klinik wieder verlassen. Was am Abend des 14. September 2009 genau geschah, daran kann sie sich nicht erinnern. "Es geht ihr äußerlich den Umständen entsprechend gut", sagt Holger Boden, der Anwalt von Kassandras Eltern, die in dem Prozess als Nebenkläger auftreten. Kassandra sei aber noch in Behandlung. Immer noch leide sie an den Folgen der schweren Verletzungen. Die seelischen Spuren ihres Martyriums seien noch nicht völlig einschätzbar.
Was sich in Velbert-Neviges zugetragen hat, gibt immer noch Rätsel auf. Wie immer spielte Kassandra in dem betreuten Spieltreff unweit ihres Elternhauses. Als der Hort um 18 Uhr schloss, traf Kassandra auf ihren Peiniger. Der Täter verletzte das Mädchen laut Anklage mit einem Stein, dann warf er es hinter der nahen Turnhalle in Tötungsabsicht in den Schacht. Den Steinbrocken warf der Täter hinterher, auf Kassandras Kopf, bevor er den Deckel zuzog und ihn mit Ästen bedeckte.
Faserspuren an der blutbefleckten Jacke des Mädchens sowie Zeugenaussagen führten die Ermittler auf die Spur des jungen Verdächtigen. Der Schüler sitzt seit Oktober in Untersuchungshaft. Seine Anwältin scheiterte in mehreren Instanzen mit Haftbeschwerden. Vor Beginn des Prozesses wollte sie sich nicht zum Verfahren äußern.
Warum kann sich eine solche Brutalität den Weg in eine bislang friedliche Welt bahnen? Der beschuldigte Schüler stammt aus einer auf den ersten Blick normalen Familie. Der Junge kannte Kassandra. Und doch gab es Auffälligkeiten: Er hatte Hausverbot in dem Spieltreff. Eltern hatten sich beschwert, dass der Junge kleinere Kinder ärgere. Schüler berichteten, dass er sich oft geprügelt habe. Auch ein Verfahren wegen Körperverletzung lief nach Polizeiangaben gegen ihn. Er besuchte eine Förderschule für soziale und emotionale Entwicklung.
Das Motiv der Tat ist bislang völlig unklar. Der Schüler hat alles abgestritten. Spuren eines Sexualverbrechens wurden nicht gefunden. Schon kurz nach der Tat war er als Zeuge vernommen worden. Damals wirkte er nach Angaben der Ermittler völlig gelassen und "abgeklärt". Kassandra hat bisher keine Aussage zu dem Geschehen gemacht. Unklar ist, ob sie sich überhaupt an den Täter erinnern kann. Aber der Spurenordner ist nach Angaben von Anwalt Boden "sehr umfangreich".