Den Zügen in den Tod entgangen

Eva Weyl berichtete Gymnasiasten, wie sie im niederländischen KZ-Sammellager Westerbork den Holocaust überlebte. Eine Mahnung.

Foto: Janicki

Wülfrath. Einen Satz schickt Eva Weyl ihrer Überlebensgeschichte voraus: „Ihr seid nicht für die Vergangenheit verantwortlich — aber dafür, was ihr daraus macht.“ In der Mensa des Gymnasiums blickt die 81-jährige Jüdin in viele junge Gesichter. Gespannte, teils auch angespannte. Die Zeitzeugin erzählt von den fünf Jahren, die sie als Kind im KZ-Sammellager Westerbork in den Niederlanden durchleben musste, nur aus einem Grund. Sie hebt den Finger: „Wir Zeitzeugen leben bald nicht mehr. Ihr müsst die Geschichte lebendig halten.“

Die Familie Weyl lebte im niederrheinischen Kleve, wo sie ein Textilgeschäft führte. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde der Betrieb schnell enteignet, ebenso wie das Haus der Juden. Als Eva Weyls Vater in Aachen ein Plakat mit der Aufschritt „Juden sind unser Verderben“ hängen sah, beschloss die Familie, ins vermeintlich sichere Arnheim in den Niederlanden zu flüchten. Doch auch dort entgingen sie nicht der Deportation. Nachdem Hitler 1940 den neutralen Nachbar angegriffen hatte, wurde Weyl im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern ins Durchgangslager Westerbork gebracht. Die Familie hatte noch vergeblich versucht, ein Versteck zu finden. Schließlich sagte der Vater: „So schlimm wird es nicht werden.“

Das Leben im Lager bezeichnet Weyl heute als „schönen Schein“. Westerbork war anders als die berüchtigten KZs in Dachau oder Auschwitz. „Dieses Dorf war in seiner Form einmalig“, schildert die Überlebende. Es gab ein Krankenhaus, einen Spielplatz — und sogar ein Theater und ein Orchester. „Das war eine wahnsinnige Täuschung, um die Stimmung im Lager ruhig zu halten“, berichtet Weyl.

Die friedliche Atmosphäre, die Lagerkommandant Albert Konrad Gemmeker erzeugte, war reines Kalkül. Jeden Dienstag holten Züge Juden ab und brachten sie nach Osten in die Todeslager. So wurde zwar in Westerbork niemand systematisch getötet oder gefoltert, trotzdem wurden zwischen 1942 und 1944 mehr als 107 000 Juden von dort deportiert. Von ihnen überlebten nur 5000 Menschen. Zu den Opfern gehörte auch Anne Frank, die der Nachwelt ihre berühmten Tagebücher hinterließ.

Weyl erinnert sich vor den Gymnasiasten mit Schaudern an die kalten Baracken zurück, in denen immer viel geschrien und auch gestohlen wurde. Besonders schlimm seien die Massen-Latrinen gewesen, bei denen die Menschen Seite an Seite ihr Geschäft verrichten mussten. Aber Weyl sagt: „Ich hatte keine Angst, weil meine Eltern da waren und mir Schutz gegeben hatten.“

Als Kind ahnte sie nicht, wie knapp sie dem Tod entkommen war. Der Name Weyl habe schon auf der Liste für die Deportation gestanden, wurde aber wieder gestrichen. Das funktionierte nur, weil Eva Weyls Vater im Lager eine bevorzugte Stelle in der Administration ausübte. Ein zweites Mal verhinderte ein Flugzeugangriff der Alliierten die Abfahrt des Zuges. Ein drittes Mal wollte der Familienvater freiwillig das Lager verlassen, da er wegen seiner wichtigen Funktion im Lager bedroht wurde. Ein Freund konnte ihn gerade noch davon überzeugen, dass im Osten nur der Tod wartet. „Das ist das beste Beispiel dafür, dass es viele nicht glauben konnten, dass es sowas gibt.“ Am 12. April 1945 wurde Westerbork von kanadischen Soldaten befreit. Als Lagerkommandant Albert Konrad Gemmeker später der Prozess gemacht wurde, konnte er die Richter davon überzeugen, dass er nichts von dem Massenmord gewusst hatte. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt und nach sechs Jahren entlassen. 1951 zog er als freier Mann nach Düsseldorf.