Fragestunde mit dem Vize-Kanzler
Sigmar Gabriel (SPD) beantwort Fragen der Azubis und trommelt für Gewerkschaften.
Wülfrath. Wenn der Vizekanzler kommt, wird’s wuselig bei Lhoist. Dann gibt es Sicherheitskontrollen vor dem Parkplatz, Polizeibeamte vor dem Ausbildungszentrum und einen hartnäckigen Schwarm von Fotografen, der beim Auftritt von Sigmar Gabriel erst zur Seite weicht, als selbst der Wirtschaftsminister findet: „Es reicht doch jetzt.“ Schließlich war der SPD—Parteivorsitzende — zumindest offiziell — nicht für die Fotos gekommen und schon gar nicht, um plötzlich in Wülfrath das Schweigen um seine mögliche Kanzlerkandidatur zu brechen.
Nein, gestern ging’s um die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Genauer: Um die personifizierte Zukunft, die bei Lhoist gerade ihre Ausbildung absolviert. Rund 40 der 55 Wülfrather Azubis waren erschienen, um Gabriel Fragen zu stellen. Und zwar „frei von der Leber weg“, wie Lhoist-Betriebsratschef Roland Schmidt die jungen Leute animierte. Diese waren gut vorbereitet, hatten sie sich doch mit der Ausbildungsleiterin Kirsten Fischer zuvor in einem kleinen Workshop bereits die Fragen an den prominenten Besucher erarbeitet. „Wir hatten so viel Fragen, dass wir am Ende eine Auswahl treffen mussten“, sagte Fischer der WZ. Das Interesse an Politik und vor allem Wirtschaft war geweckt.
„Für welche Berufsausbildung würden Sie sich entscheiden, wenn Sie heute jung wären?“, fragte eine Industriekauffrau im dritten Ausbildungsjahr. Gabriel, nicht um eine persönliche Geschichte verlegen, berichtete zunächst von seinem eigenen Werdegang. Von der Volksschule und der mittleren Reife zur Lehrstelle als Chemielaborant bis hin zu seinem Erfolg als erster Abiturienten in seiner Straße. „Ich könnte nicht sagen, was ich heute machen würde“, sagte der Wirtschaftsminister, stellte aber fest: „Viele glauben, nur ein Studium ermöglicht ein gutes Leben. Das ist Quatsch.“
Dann rannte er mit einer politischen Forderung bei seinem Publikum offene Türen ein. Die Abschaffung der Studiengebühren sieht Gabriel nämlich als einseitige Begünstigung: „Ich fände es gut, auch Gebühren für die Meister- und Technikerausbildung abzuschaffen.“
Sigmar Gabriel nutzte den Termin auch dazu, für Gewerkschaften und Tarifverträge zu trommeln. Warum die Azubis bei Lhoist 30 Urlaubstage haben und der Samstag kein Werktag mehr ist, wollte er von seinen Zuhörern wissen. „Weil wir so einen großzügigen Arbeitgeber haben“, antwortete ein Azubi und sorgte damit für den längsten Lacher der Veranstaltung. „Weil es einen Tarifvertrag gibt!“, erinnerte Gabriel. „Fast nichts, was Sie heute als normal erachten, steht im Gesetz.“
Angesprochen auf die Digitalisierung der Arbeitswelt sprach sich der Sozialdemokrat gegen die ständige Erreichbarkeit („always on“) über das Smartphone aus: „Ich finde, es gibt ein Recht auf Pause, ein Recht auf Freizeit.“ Am wenigsten mache er sich in Sachen Digitalisierung um Betriebe wie Lhoist Sorgen — „weil Sie Fort- und Weiterbildungen machen“.
In rund einer Stunde schaffte Gabriel dank der vielseiten Azubi-Fragen einen Exkurs von der Stahlindustrie („Wir dürfen keine Angst vor China haben“), über den Braunkohle-Ausstieg („Ausstieg 2025? Weiß gar nicht, wie das gehen soll.“), Obdachlosigkeit („Eine Angelegenheit, bei der man auf Bundesebene kaum etwas machen kann“) und die Lohnungleichheit von Männer und Frauen („Wenn Sie ein Kilo Stahl bewegen, kriegen Sie mehr Geld, als wenn Sie im Altenheim 70 Kilo Mensch bewegen“). Komplexe Themen — klar und prägnant abgehakt. Genau rechtzeitig, denn für viel mehr große Politik hätte der Sauerstoff im Vortragssaal auch nicht mehr ausgereicht.