Nevigeser Dom: Wie in einer anderen Welt

Im Nevigeser Dom findet der Besucher einen stillen Rückzugsort — der manchmal von sphärischen Orgelklängen erfüllt wird.

Velbert/Neviges. Eingang in eine andere Welt: Wer aus dem strahlenden Licht der Sommersonne den Mariendom betritt, bekommt das Gefühl, in einer gewaltigen Grotte zu stehen. Dunkel ragen die steilen Wände auf, die Kuppel verschwindet im tiefen Schwarz. Erst wenn sich die Augen an das Dämmerlicht angepasst haben, werden einige Konturen erkennbar. Nur wenige Menschen haben am Montagvormittag den Weg in die Wallfahrtskirche gefunden, sie verlieren sich geräuschlos in der Weite des Kirchenraumes.

In der Sakramentskapelle werkel ein Hausmeister am Schloss des Tabernakels herum. Die Tür mit den dicken Bolzenriegeln steht offen, ein Franziskaner-Bruder schaut zu, murmelt Ratschläge. Die schrägen Strahlen der Sonne lassen das Rosenfenster flammendrot erstrahlen, die Leuchtkraft schmerzt fast in den Augen. Die rußgeschwärzten Betonwände wirken in dem Licht weich.

Sanfte Orgeltöne beenden die Stille. Die wenigen Besucher im Kirchenraum wenden den Kopf zur Empore, können aber nicht sehen, wer spielt. Eins ist sicher: Es ist ein Könner. Fast sphärische Klänge durchwehen die Weite des Domes, hingehuschte Läufe wechseln mit absteigenden Akkorden in sich ständig ändernden Klangfarben bis die mächtigen Basspfeifen die Luft erzittern lassen.

Das tiefe Wummern ist als Kribbeln im Bauch spürbar. Dann reißt der Klang plötzlich ab, noch Sekunden hallt das Orgelbrausen in den Ecken und Nischen nach. Dann wieder Stille.

In der Marienkapelle sitzt ein älteres Ehepaar vor der Gnadensäule, im stillen Gebet versunken. Mit zögernden Schritten erhebt sich der Mann, geht zur Säule und legt wie beschwörend seine Hand auf die Glaskuppel, die das dort eingelassene Gnadenbildchen überdeckt.

Lange verharrt er so, bekreuzigt sich und geht zu seiner Frau, die mehrere Opferkerzen anzündet. Eine Helferin ordnet die Blumentöpfe und Vasen, die um die Säule aufgestellt sind: Rosen, Asternbüsche, Orchideen. Sie zupft Verwelktes ab, rückt zurecht.

Ein neuer Besucher bestaunt die filigran gearbeitete Mariensäule. Dann studiert er die Gedenktafel an der Wand: Kardinal Karol Wojtyla hatte im Juni 1977 und im September 1978 den Mariendom besucht. 23 Tage später wurde er zum Papst gewählt. Die Orgel setzt wieder ein.

Ein junger Mann in schwarzer Soutane eilt in die Kapelle. Er legt neue Opferlichter nach, sammelt die leeren Alu-Hülsen in einem alten Waschmittelkarton ein. Am Treppenabgang zur Krypta blättert eine alte Frau in dem Buch für Gebete. Hier vereinigen sich auf den Seiten Schmerz, Trauer, Hoffnung und Dankbarkeit.

„Lieber Gott, wir wünschen uns für Opa alles Gute im Himmel bei Dir. Lass ihn bitte angekommen sein“, wurde mit Kinderschrift geschrieben, dazu ein Herzchen und eine lachende Sonne. Andere bitten um Hilfe bei der Diplomarbeit oder wollen ihren Papa zurück. . .

Der junge Mann in Soutane klärt zwei Besucherinnen auf: „Nein, Franziskaner sind keine Mönche, sondern Brüder.“ Dann zeigt er ihnen den Dom aus einer anderen Perspektive: Von der Empore aus wirkt der wuchtige Betonbau plötzlich leicht, fast schwebend. „Unglaublich, so eine wunderschöne Kirche“, schwärmt die Dame aus Münster. Der Organist geht — es ist Kreisjugendseelsorger Daniel Schilling. „Ich wollte mich mal wieder austoben“, sagt der gelernte Orgelbauer etwas verlegen.