Plötzlich war ein Junge einfach weg
Als der Krieg in Wülfrath endet, laufen die Kinder neben den Panzern her. Eines von ihnen verschwindet damals.
Ein Kind verschwindet. Einfach so. Für immer. Gerade ist der Junge noch die Straße entlang gerannt, wie all die anderen Kinder auch. „Wir sind immer mitgelaufen. Auch schon während des Krieges, als die Deutschen durch die Stadt kamen“, erinnert sich Klaus Jann.
Er selbst war damals fünf Jahre alt, der Freund aus dem Nachbarhaus war zwei Jahre älter. Und am 16. April 1945 — heute vor 70 Jahren — machten sie es genau so, wie sie es immer getan hatten: Sie rannten neben den einmarschierenden Soldaten die Goethestraße entlang.
Vor 70 Jahren:
Die Stunde Null
Doch diesmal waren es keine deutschen Panzer, sondern die der Amerikaner. Und als die Kinder auf dem Bürgersteig einmal hoch und wieder runter gelaufen waren, war der kleine Friedhelm plötzlich weg. „Keiner wusste, wo er geblieben war“, spricht Klaus Jann über einen Augenblick, der sich über Jahrzehnte hinweg in die Erinnerung eingebrannt hat.
An der Goethestraße, so Jann, hätten damals viele Kinder gewohnt. Man kannte sich und spielte zusammen. Üblicherweise auf der Straße, so wie das damals eben war. Und als dann plötzlich einer fehlte, geriet nicht nur das Leben der Eltern des Jungen vollkommen durcheinander.
Auch die Nachbarn versuchten, selbst von den Kriegswirren gezeichnet, dennoch zu helfen. „Wir wurden immer wieder gefragt, wo wir ihn zuletzt gesehen haben“, spricht Jann heute über das traumatische Erlebnis von damals.
Hier war er noch bei uns, da ist er auch noch neben uns gelaufen: Immer wieder tauchten Bilder der Erinnerung auf. An den Moment jedoch, in dem der Siebenjährige verschwand, erinnerte sich niemand. Die Eltern setzten alles in Bewegung, um ihren Jungen zu suchen. Der Vater — ein Mitarbeiter der Wülfrather Stadtwerke — sprach sogar im Rathaus vor. Aber auch dort hatte man andere Sorgen.
Mit dem Kriegsende herrschte zumindest vorübergehend Verwirrung. Und offenbar sah sich niemand in der Lage, ein verschwundenes Kind zu suchen. „Es gab damals ja auch überhaupt keine Anhaltspunkte, wie und wo man hätte suchen sollen“, blickt Jann zurück auf die Wochen und Monate danach. War er überfahren worden? Hatten ihn die Amerikaner mitgenommen? Niemand wusste etwas.
Und noch viel weniger wusste man offenbar, was in einem solchen Fall zu tun ist. Eine unterschwellige Angst machte sich breit. Die Mütter ließen ihre Kinder nicht mehr aus dem Haus. „Ich durfte nicht mehr aus dem Fenster schauen, weil direkt nebenan die Amerikaner mit ihren Panzern standen“, erinnert sich Jann.
Kehrten in den Familien irgendwann wieder so etwas wie Alltag und Normalität ein, blieben die Eltern des kleinen Friedhelm in ihrer Verzweiflung allein zurück. Ihr einziger Sohn war auch ein Jahr später noch nicht wieder aufgetaucht.
Die Mutter habe noch Jahre danach geweint und gehofft, dass sich ihr Sohn irgendwann Zuhause melden wird: aus Amerika, aus einem glücklichen Leben.