„Wir leben gerade im Jahr 1105“
Das Jahr 2010 ist für Familie Carl wenig reizvoll. Lieber verwandeln sich Eltern und Kinder in der Mittelalter-Szene in Angehörige eines verarmten Landadels.
Neviges. Wenn andere am Wochenende entspannen und sich ausruhen, stehen sie auf Märkten und Festen in zugigen Zelten oder Ständen, bei Platzregen oder Sommerhitze. Gemütlichkeit war im Mittelalter eben nicht unbedingt Trumpf. Und ins Mittelalter tauchen Knut und Sherill Carl am liebsten ein - so oft es geht.
Gewandet in kratzige Wolle und raues Leinen statt in Fleece oder Baumwolle steht der Baron Sylvain de Leshans in seiner Suppenküche und bietet mittelalterliche Verpflegung an: Suppen, Schmalzbrote und Reiseverpflegung. Seine Frau, Ellen Baronin de Leshans, hält nebenan an ihrem Stand Seifen feil, die die Seifensiederin selbst hergestellt hat.
"Ja, irgendwie sind wir bekloppt - aber es macht auch ungeheuer viel Spaß", erzählt Sherill Carl, die unter der Woche in ihrem kleinen Lädchen an der Siebeneicker Straße ihre selbstgefertigten Seifen verkauft. Ihr Mann ist Qualitätsmanager im Vollzeitjob. In ihrer Freizeit brechen sie aber auf in längst vergangene Zeiten.
Angefangen hat alles vor zehn Jahren, als ihr damals 13-jähriger Sohn Dennis-Lee gerne auf den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt nach Hückeswagen wollte. "Dort wurden wir sofort von diesem Mittelalter-Virus infiziert", erinnert sich Sherill Carl. "Diese Atmosphäre, die Musik von ,Rabenschrey’, die ganze Stimmung."
Danach folgten weitere Marktbesuche und Informationen aus dem Internet. Je tiefer sie in die Welt des Mittelalters eintauchten, desto faszinierter war Familie Carl. Auch die beiden anderen Kinder Ann-Kathrin und Jan-Nikklaas (damals 10 und 7 Jahre) zogen mit.
Um richtig dazu zu gehören, brauchte es noch einen neuen Familiennamen, ein eigenes Wappen und natürlich auch eine eigene Geschichte. Und so wurde aus den Carls der verarmte Landadel der Familie des "Barons Sylvain de Leshans". Sie hatten ihren Landsitz in der Normandie verlassen, waren auf dem Kreuzzug bis nach Jerusalem gekommen und sind jetzt wieder fast in der Heimat.
"Wir leben gerade im Jahre 1105", sagt Sherill Carl, als wäre es das Normalste auf der Welt. Das Familienwappen ziert ein Drache, der auch dem Söldnerlager, in dem die Carls auf Märkten leben, den Namen gab: Dracones Noctis - Drachen der Nacht. Die Familienhistorie wird übrigens ständig fortgeschrieben - wie im "richtigen Leben".
Als der Sohn eine neue Freundin hatte, wurde die kurzerhand integriert. Bei einer Rothaarigen lag die Geschichte auf der Hand: Er hatte sie vor dem Scheiterhaufen gerettet.
Als ein Kind einmal Hautprobleme hatte, kam Sherill Carl auf die Idee, nach mittelalterlichen Rezepturen selbst Seife herzustellen - mit Erfolg. Da war der nächste Schritt nicht weit: ein eigener Stand. Und Ehemann Carl wollte gerne mit einem Suppenstand eine Angebotslücke auf fast jedem Mittelaltermarkt stopfen.
Ob "Sarazenentopf" mit Kichererbsen und Bohnen oder schottische "Cock a leekie", "Minestra de Verza" (Gemüsesuppe mit Parmesan) - alles wird probegekocht und aus Zutaten hergestellt, die es auch im Mittelalter schon gegeben hat.
Die Freude am Leben im Mittelalter lässt die Carls auch die Strapazen vergessen, die damit verbunden sind. "Klar, es ist eine Flucht aus dem Alltag. Aber man kann dabei gut abschalten. Und es macht süchtig", erklärt Sherill. So stört sie auch das Urteil ihrer Mutter nicht: "Ihr seid bekloppt."