Annenhof: „Die Aufnahme war ein Schock“

Eine ehemalige Bewohnerin berichtet über den Annenhof in den 90er Jahren. Im Rückblick hilft ihr die Zeit bei der Bewältigung ihres Schicksals.

Foto: Kurt Lübke

Kempen. „Ich war zwölf Jahre alt, als ich in den Annenhof kam“, sagt Katja M. (Name von der Redaktion geändert). „Die Aufnahme hier war ein Schock für mich. Damals hatten Nonnen hier das Sagen. Es ging recht streng zu. Dann diese hohen Decken und der dunkle Flur. Diese Eindrücke sind hängengeblieben“, beschreibt Katja M. den Beginn ihres einjährigen Aufenthalts im Kempener Kinderheim 1994. Sie war von Zuhause weggelaufen, in einer Auffangstation für Jugendliche gelandet und von dort aus im Annenhof untergebracht worden.

„Meine Familie war alles andere als eine aus dem Bilderbuch. Meine Mutter hat als Prostituierte gearbeitet. Und mein Stiefvater hat mich missbraucht.“ Mit ruhiger Stimme berichtet M. über ihr schweres Schicksal. Ein Schicksal, das sie erst viele Jahre später bewältigt hat. „Im Rückblick hat mir dabei auch die Zeit im Annenhof geholfen“, sagt die 33-Jährige.

Aber nur im Rückblick. Zunächst habe sie die Hilfe der Erzieher in Kempen nämlich keineswegs angenommen. „Ich wollte nicht in so einer Einrichtung leben. Ich bin nur weggelaufen, weil ich meine Mutter aufwecken wollte. Ich wollte nur geliebt werden“, sagt Katja. „Mit den ganzen Regeln konnte ich nichts anfangen.“

Nach einem Jahr im Annenhof habe ihre Mutter dann auf dem Papier die Auflagen für eine sogenannte „Rückführung in die Familie“ erfüllt: Die Mutter gab an, nicht mehr im Rotlicht-Millieu zu arbeiten. Und auch vom Stiefvater habe sie sich getrennt. „Das war aber nur auf dem Papier so“, erzählt die junge Frau. „In Wirklichkeit tauchte mein Stiefvater schon nach zwei Wochen wieder auf.“ Und auch mit der Prostitution sei es weitergegangen.

Unter diesem psychischen Druck brach das Mädchen damals völlig zusammen. „Für mich ging es rapide bergab. Ich geriet selbst in die Prostitution. Mit 18 war ich drogen- und alkoholabhängig“, berichtet die heute 33-Jährige. Erst als sie ihren heutigen Mann kennenlernte, habe ihr Leben eine Wendung genommen: „Mein Mann hat mich gerettet.“ Es folgte eine lange und intensive Therapie. Heute hat das Paar eine vierjährige Tochter.

„Wenn meine Mutter und ich zugelassen hätten, die Hilfe im Annenhof langfristig anzunehmen, wären mir viele schlimme Erlebnisse erspart geblieben“, berichtet die junge Frau. So dauerte ihr Weg zu einem geregelten und glücklichen Leben wesentlich länger.

Zur Vergangenheitsbewältigung gehörten auch Besuche im Annenhof. „Katja rief an. Und ist dann irgendwann vorbeigekommen“, berichtet Annenhof-Leiter Herbert Knops, der schon Mitarbeiter an der Oelstraße war, als das Mädchen dort gelebt hat. „Damals war absolut unsicher, was aus Katja wird. Umso schöner war es für uns zu hören, dass sie die Kurve bekommen hat.“

Für Katja M. selbst ist heute erstaunlich, wie strukturiert, ja fast pedantisch, sie ihr Leben und das ihrer Familie organisiert: „Mir ist es enorm wichtig, dass meine Tochter feste Strukturen hat. Wir essen gemeinsam — meistens um die gleiche Zeit. Auch für das Zubettgehen nehmen wir uns viel Zeit. Das ist eine Art Ritual.“ Aus ihrer Sicht sind das Regeln, die Katja M. in ihrer Annenhof-Zeit in Kempen erfahren hat. Deshalb appelliert sie an Kinder und Jugendliche, die möglicherweise ähnliche Probleme im Elternhaus haben wie sie: „Nehmt die Hilfe von Einrichtungen wie dem Annenhof an. Aus meiner Sicht ist das eine große Unterstützung.“