Abschied in Kempen Kempen: Mit dem Hauptschul-Aus endet eine Ära
Kempen · Mit dem Ende der Martin-Schule endet eine Ära. Hervorgegangen war die Hauptschule aus der sogenannten Knabenvolksschule. Ein Blick in die Historie.
Mit der Entlassung ihrer letzten Abschluss-Klassen wird am Samstag die Kempener Hauptschule, seit 1989 Martin-Schule genannt, ihre Pforten schließen. Mit ihrer Auflösung geht ein Stück Stadtgeschichte zu Ende. Die Martin-Schule war das letzte Glied in der langen Kette der Volksschulen, aus denen die Hauptschulen hervorgingen. Nun geht sie in der neuen Gesamtschule auf. Zum Abschied blickt die WZ auf eine lange und bewegte Geschichte der Schule zurück.
Bereits 1353 ist in Kempen eine Schule erwähnt, die am Kirchplatz lag. Sie dürfte schon um 1300 gegründet worden sein, denn in der Regel erfolgte die Errichtung einer Schule im Zusammenhang mit der Erhebung eines Ortes in den Städterang. Kempen war am 3. November 1294 mit Stadtrechten versehen worden. Hier wurde den Schülern neben Lesen, Schreiben und Rechnen so viel Latein beigebracht, damit sie als Chorsänger beim Gottesdienst mitwirken konnten. Eine Vorläuferin der späteren Volksschule, allerdings nur für das gehobene, zahlungskräftige Bürgertum. Mit ansteigender Bevölkerungszahl kam 200 Jahre später eine zweite Schule hinzu, in der auf Deutsch unterrichtet wurde.
Volksschulbau wurde am 4. September 1929 eingeweiht
Eine eigene Mädchenschule gab es erst 1756. Indes erfassten diese Schulen nur einen kleinen Teil der Kempener Kinder. Bildung galt nicht als Notwendigkeit, sondern als Privileg. Erst die preußische Verwaltung führte 1825 die Allgemeine Schulpflicht ein und die Besoldung der Lehrer durch die Gemeinde. Einen entscheidenden Schritt vorwärts bringt an der heutigen Straße „Am Gymnasium“ ein geräumiger Volksschulbau, der am 4. September 1929 eingeweiht wird. Er bietet Platz für die katholische Knabenvolksschule, für vier Grundschulklassen aus Jungen und Mädchen sowie für zwei so genannte „Hilfsschulklassen“, wie man die Förderklassen damals nannte. In diesem Gebäude befindet sich heute die Martin-Schule.
1989 wurde der Heilige Martin zum Namensgeber der Schule
Leiter der Knabenvolksschule war von 1936 bis zu seinem Tod im Jahre 1944 Wilhelm Grobben, nach dem man 1964 eine Straße benannt und an dessen Geburtshaus Peterstraße 14 der Kempener VLN-Ortsverein 1975 eine Erinnerungstafel angebracht hat. Grobben, überzeugter Nationalsozialist, hatte nicht weniger als elf Ämter vor allem im Kultur- und Propagandabereich des NS-Staates inne und war vom 1. Februar 1937 bis zum 12. Oktober 1938 Ortsgruppenleiter, also ranghöchster Nationalsozialist in der Stadt. In seinen offiziellen Äußerungen Rassist und Militarist, war er privat umgänglich und hilfsbereit und vor allem ein gefühlvoller Heimatdichter, der mit der Sprachform des Kempsch Platt meisterhaft umgehen konnte.
Das machte ihn in Kempen so populär, dass noch 1989, als die Kempener Hauptschule einen Eigennamen bekommen sollte, eine beträchtliche Gruppe von Bürgern „Wilhelm-Grobben-Schule“ vorschlug. Aber die Schulkonferenz wählte Martin von Tours zum Namenspatron – einen Heiligen, der durch die Mantelteilung und durch sein Leben für Tugenden wie Solidarität, Hilfsbereitschaft, konsequentes Handeln und Selbstlosigkeit steht. Und um dessen Brauchtum in Kempen die Schule sich verdient gemacht hat.
Nach dem Krieg wurde Wilhelm Eckmanns Schulleiter
Am 3. März 1945 wurde Kempen von der 84. US-Division besetzt, der Krieg war für die Stadt zu Ende. Nach dem Ende des kirchenfeindlichen „Dritten Reiches“ wandten sich viele Menschen wieder christlichen Grundsätzen zu. In einer Befragung sprechen sich 87 Prozent der Kempener Eltern für die Konfessionsschule aus. So wurde ab dem 1. August 1946 die von den Nationalsozialisten begründete Gemeinschaftsschule durch Bekenntnisschulen ersetzt, und das im „Dritten Reich“ verpönte Kreuz hält wieder Einzug in die Klassenzimmer. In diesem Sinne leitete seit 1945 Wilhelm Eckmanns aus Duisburg die Knabenvolksschule, seit 1959 Anton Hitpaß.
1968 führten neue pädagogische Vorstellungen zu einer grundlegenden Reform des Volksschulwesens: Es wurde in eine Grundschule unterteilt, die die vier unteren Schuljahre umfasst und konfessionellen Charakter haben kann; und in eine Hauptschule, zunächst bestehend aus den Klassen fünf bis neun, die konfessionsübergreifend ist. In Kempen bedeutete das: Im Gebäude der früheren katholischen Knabenvolksschule, Am Gymnasium, wurde die Gemeinschaftshauptschule eingerichtet; in der ehemaligen katholischen Mädchenvolksschule, Wiesenstraße, kamen zwei katholische Grundschulen unter. Die evangelische Grundschule etablierte sich an der Wachtendonker Straße im Haus der bisherigen evangelischen Volksschule. Leiter der Hauptschule war bis 1986 der bisherige Rektor der Knabenvolksschule, Anton Hitpaß.
Reguläre Hauptschule
ging 1968 an den Start
12. August 1968: Erster regulärer Unterrichtstag an der neuen Hauptschule. Die hatte eine gewaltige Leistung hinter sich: 650 Schüler und Schülerinnen sind in Klassen und Leistungskurse für Mathematik, Englisch und Rechtschreibung eingeteilt, Schülerkarteien sind geschrieben worden. Die Büchereien für Schüler und Lehrer befanden sich im Aufbau. Schon jetzt zeichnete sich ab: Der Altbau, die ehemalige Knabenvolksschule war zu klein, hier waren auch noch zwei Sonderschulklassen und eine Klasse der Mädchengrundschule untergebracht. Im September 1971 wurde der Neubau fertiggestellt. Am 11. November wurde der gesamte Altbau zwecks Umbau und Renovierung geräumt. Das führte im Neubau zu drangvoller Enge: Im Werkraum saßen nun 60 Schüler, teilweise auf den Fensterbänken, und rechneten in Heften, die sie auf dem Schoß balancierten.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz wird im Schuljahr 1972/73 das 10. Schuljahr eingeführt, mit 30 Schülern aus dem Kempener Stadtbezirk, zu dem damals noch Hüls gehört. Sie strebten die Fachoberschulreife an. Und schafften sie in der Regel.
Von Beginn an ist an der Kempener Hauptschule höchst erfolgreiche Arbeit geleistet worden. So startete sie eine Kooperation mit der Sonderschule „Erziehungshilfe Klixdorf“, um deren Schülern den Hauptschulabschluss zu ermöglichen. 1978 und in den Folgejahren pendelte die Schülerzahl um 1000. Mit 52 Lehrern und 33 Schulklassen war die Hauptschule eine der größten in Nordrhein-Westfalen. Der Raummangel wurde geschickt umschifft: durch Pavillons; durch zusätzliche Räume im neu errichteten Schulzentrum am Luise-von-Duesberg-Gymnasium und in der Fröbelschule. Bald wurde die gesamte Fröbelschule von der Hauptschule genutzt.
1987 wurde Heiner Wirtz Nachfolger von Anton Hitpaß. Aber immer mehr Eltern wollten ihre Kinder zur Realschule oder zum Gymnasium schicken. An den Hauptschulen nahm die Schülerzahl ab. Am 1. August 1990 wurde die Gemeinschaftshauptschule St. Hubert aufgelöst und der Martin-Schule eingegliedert. Deren Ruf ist gegen den allgemeinen Trend so gut, dass ihre Schülerzahlen erst ab 2004 deutlich sank. Unterrichtskapazitäten wurden frei, was weitere Projekte ermöglichte. Im Sommer 2011 weihte die Schule eine Mensa ein.
Mit Reiner Dickmanns
geht nun eine Ära zu Ende
2007 wurde Heiner Wirtz verabschiedet, ihm folgte Hubert Kalla, Schulleiter bis 2015. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Schule 621 Schüler in 21 Klassen. Trotz ihres hohen Ansehens war mit einem weiteren Rückgang der Schülerzahl zu rechnen. Landespolitisch war die Schulform Hauptschule nicht mehr gewünscht und so befasste sich auch die Stadt Kempen mit Alternativen. Laut Beschluss des Schulausschusses vom 11. April 2013 wurden die Eltern, deren Kinder die ersten bis dritten Klassen der Grundschulen besuchten, vom 3. bis 18. Juni per Erhebungsbogen zu ihrem Wunsch nach einer weiterführenden Schule befragt. Zwar lag die Beteiligung der Eltern von Erst- und Zweitklässlern nur knapp über 50 Prozent. So rechnet das Schulamt die Zahlen hoch, was die FDP für fragwürdig hält. Aber die Mindestzahl von 100 positiven Stimmen für eine Gesamtschule wurde deutlich überschritten. Am 17. Oktober 2013 stimmte Kempens Rat dem Verfahren zur Einrichtung einer Gesamtschule in der Thomasstadt zu, was die Bezirksregierung Düsseldorf befürwortet. Das Aus für Real- und Hauptschule war besiegelt.
Am Samstag wird Reiner Dickmanns, der viele Jahre Konrektor der Martin-Schule war, als kommissarischer Schulleiter die letzten 31 Schülerinnen und Schülern seiner Schule entlassen. Mit einem Festakt geht ein Stück Stadtgeschichte zu Ende.