„Wann sind wir wieder frei?“ Aufwühlendes Literaturkonzert in der Thomaskirche in Kempen

Kempen · Das Programm stellte unter dem Titel „Eine Brücke zum Morgen“ Texte und Musik, die im Konzentrationslager Theresienstadt entstanden, in den Mittelpunkt. Die Aktualität dieser Werke war mit Händen zu greifen.

Das Programm führte die Zuhörer im stim­mungsvoll ausgeleuchteten Kirchen­raum an die Abgründe menschlicher Geschichte und Existenz.

Foto: Norbert Prümen

(tg) „Wann wohl das Leid ein Ende hat? Wann sind wir wieder frei?“ So heißt es in einem der ebenso ergreifenden wie niederschmetternden Lieder von Ilse Weber, die sie während ihrer Ge­fangenschaft in Theresienstadt schrieb.

Dabei handelt es sich nur um eines von vielen künstlerischen Zeugnissen, die die Insassen dieses NS-Konzentrationslagers hinterlas­sen haben und die das aus Katrina Schulz (Violine), Peter Stein (Viola) und Inka Ehlert (Cello) bestehende Ensemble „Eine Brücke zum Mor­gen“ der Vergessenheit entreißen möchte. Als sie am Montagabend im Rahmen der von der Kreismusik­schule organisierten Reihe „Litera­Ton“ gemeinsam mit der Altistin In­geborg Danz und dem Sprecher Bernt Hahn in der Kempener Tho­maskirche gastierten, erhielt ihr Auf­tritt durch den neu entfachten Nah­ost-Konflikt eine zusätzliche Bedeu­tungsebene.

Das in Zusammenarbeit mit dem Musiker Gerd Michael Herbig und der Musikwissenschaftlerin Claudia Valder-Knechtges konzipierte Pro­gramm führte die Zuhörer im stim­mungsvoll ausgeleuchteten Kirchen­raum an die Abgründe menschlicher Geschichte und Existenz, denen die Kunst die Bejahung des Lebens ent­gegenhält. Text- und Musikbeiträge wech­selten dabei einander ab. Nach der Eröff­nung durch zwei von Mo­zart für Streicher transkribierte Sätze aus Bachs zweiter Orgel-Triosonate folgten mit Hans Krása, Vik­tor Ull­mann, Ilse Weber und Gi­deon Klein durchweg Komponis­ten aus Theresie­nstadt. Dazu kamen Verto­nungen weiterer Texte von NS-Op­fern durch Diet­rich Lohff (1941-2016). Neben der Dra­matik und dem hohen künstlerischen Anspruch der beiden instrumentalen Werke – Krá­sas „Passacaglia und Fuge“ und Kleins „Streichtrio“ – be­eindruckten die Ausdruckskraft und direkte An­sprache der Lieder, die Danz mit viel Empfindung vortrug. Vielfach han­delte es sich um Schlaf­lieder sowie Totenklagen, in denen um die un­schuldigen Opfer – oft­mals Kinder – getrauert wird. Höchst wirkungsvoll etwa die Stille am Schluss eines Lie­des aus dem „Requiem für einen pol­nischen Jun­gen“, das auf den Worten endet: „Für das, was wir er­tragen, ist jede Spra­che stumm“. Hilfreich für die Zuhö­rer wäre es womöglich gewesen, die Liedtexte im Programm mit abzu­drucken.

Ein großes Einfüh­lungsvermögen und dramatur­gisches Gespür bewies ebenfalls Bernt Hahn bei seinem Vortrag von Texten von Gerty Spies, Georg Kaf­ka, wiederum Viktor Ull­mann, Hans Sahl und Rose Auslän­der, die sich je auf ihre Weise litera­risch mit der menschlichen Bar­barei befassten. Den Schluss setzte ein Gedicht von Wisława Szymborska, das als Aufforderung zu ethischem Handeln an uns heutige Menschen zu verstehen ist, die sich aus dem Wissen um die Brüchigkeit und Ein­zigartigkeit je­des Lebens er­gibt.