Der Mann, der Lobberich erotisch macht

Die Fotos von Karl Reiß spielen mit Strukturen und beweisen einen scharfen Blick: Dabei wollte er sie lange gar nicht zeigen.

Foto: Friedhelm Reimann

Lobberich. Wer seine Fotos betrachtet, wird kaum nachvollziehen können, warum Karl Reiß sie nicht schon viel eher einer breiten Öffentlichkeit präsentiert hat. Der 63-jährige Schwalmtaler ist promovierter Chemiker und hat 35 Jahre lang am Lobbericher Gymnasium unterrichtet — dort leitete er unter anderem die Foto-AG. Durch eine solche Arbeitsgemeinschaft war er als Schüler selber an die Fotografie herangeführt worden. Und die Faszination war so stark, dass er damals sogar überlegte, professioneller Fotograf zu werden. Doch erst jetzt — unmittelbar vor Beginn des Ruhestands — präsentiert er sein Werk.

„Objekt — Subjekt“ heißt die Fotoausstellung, die noch bis zum 23. Februar in der Werner-Jaeger-Halle zu sehen ist. Gezeigt werden Foto-Serien, die nicht als solche geplant waren. Eine heißt „Urbanes Wohnen“. Reiß hat die asiatischen Boomtowns ebenso fotografiert wie ganz archaische Wohnformen, die an Höhlen erinnern.

Dem Chemiker, der in der Dunkelkammer immer alles im Griff hatte, war es schwergefallen, auf die digitale Fotografie umzusteigen. Als er den Sprung trotzdem schaffte, erkannte er die großen Vorteile: „Die Arbeit von 14 Tagen in der Dunkelkammer kann am Computer in zwei Stunden erledigt werden.“

Man kann in Zusammenhang mit den Bildern von Karl Reiß durchaus von experimenteller Fotografie sprechen. Seine Manipulationen halten sich jedoch in Grenzen: Bei einigen Naturaufnahmen hat er hier die Farbe verstärkt, dort abgeschwächt, die Konturen aufgeweicht, so dass die Fotos einen malerischen Touch bekamen.

Immer wieder arbeitet er mit einem Augenzwinkern, wie das Foto „Erotisches Lobberich“ beweist: Die Biogasanlage wirkt, als wüchsen da zwei metallene Busen aus dem Boden. Stark vertreten in der Ausstellung sind die „Table-Tops“: Hier hat Karl Reiß alltägliche Gegenstände zum Teil so in Szene gesetzt, dass sie kaum noch zu erkennen sind. Das gilt besonders für die drei Fotos mit den Bleistiften. Betont wurde die Metallspitze, die einen kleinen weißen Radiergummi enthält. Auch eine simple Metallfeder kann für den 63-Jährigen die Triebfeder für beeindruckende Fotos sein.

Die Natur hat er unter anderem in Bildern eingefangen, auf denen durch weißen Raureif fast Märchenhaftes entstanden ist. Ob Ackerfurchen oder Hausfassaden: Immer wieder hat sich Reiß von wiederkehrenden Strukturen inspirieren lassen. Er inszeniert Alltägliches und macht daraus Besonderes — und besonders Sehenswertes.