Erinnerungen eines Nettetalers Eine Weihnachts-Geschichte im Kriegsgefangenenlager

Nettetal-Hinsbeck · Was der Hinsbecker Ludwig Feuser im Dezember 1947 während der Internierung in Italien erlebt hat, ist ihm im Gedächtnis geblieben.

Ludwig Feuser (Mitte) – hier mit Mitgefangenen – war nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien interniert.

Foto: Repro: Heinz Koch

Es war Weihnachten 1947, ein italienischer Winter, der sich südlich des Apennins überwiegend als Regenzeit zeigte. Ludwig Feuser und gut 1000 weitere Insassen eines Kriegsgefangenenlagers warteten darauf, endlich entlassen zu werden. Die meisten Gefangenen hatten Heimweh, das mit viel Alkohol unterdrückt wurde. Ludwigs Kamerad Johannes begab sich nach draußen in den kalten Regen. Da hörte er aus einer Ecke ein Schluchzen. Dem Geräusch nachgehend fand er, im schmalen Schutz eines Überdaches, ein Mädchen. Ein Kind war es noch, zehn bis zwölf Jahre alt. Total durchnässt saß die Kleine da und weinte. Johannes, selbst Familienvater, übermannte das Mitleid. Das Kind war geschlagen worden, war blutig.

Was dann geschah, stand Ludwig Feuser noch Jahrzehnte später vor Augen, als er seine Lebenserinnerungen aufschrieb. Der 2020 im Alter von 94 Jahren gestorbene, wegen seiner Verdienste um Hinsbeck 2013 mit dem „Jüütenring“ Geehrte erzählt darin eine Geschichte, die zeigt: Selbst in der Härte eines Kriegsgefangenenlagers nach dem Zweiten Weltkrieg sind Akte der Menschlichkeit möglich. Es ist eine etwas andere Weihnachtsgeschichte, die von Solidarität in schweren Zeiten berichtet. Der Bericht wurde in Teilen wörtlich aus Feusers Erinnerungen übernommen.

Untergebracht waren Feuser und andere Kriegsgefangene in amerikanischen Armeezelten zu je sechs Personen, in einigen Zelten jüngere, in anderen Zelten ältere. In den Gruppen mit jungen Männern entstand nach der langen Gefangenenzeit sexuelle Bedürfnisse, die willige Frauen gegen Geld erfüllten. Und auch das weinende Mädchen, das Feusers Kamerad Johannes gefunden hatte, war mit Prostituierten ins Lager gekommen.

Kurz entschlossen forderte Johannes das Häufchen Elend auf, mit ihm zu kommen. Die Kleine war am Ende. In ihrer verzweifelten Lage war sie bereit, alles und jedes in Kauf zu nehmen. Sie gab, ohne zu überlegen, dem Drängen des Kriegsgefangenen nach und folgte ihm. Seine Zeltgenossen setzte Johannes mit seinem Tun zunächst in Erstaunen – so war er doch sonst nicht. Zuerst hängte er vor seinem Schlafplatz eine Decke auf, um einen Privatbereich zu schaffen. Dann forderte er das Mädchen auf, dort hineinzukriechen. Ein Handtuch reichte er, etwas Trockenes zum Anziehen, dabei redete er ihr zu, gab ihr Anweisungen und immer wieder tröstende Worte. Hinter der Decke war nur die Geschäftigkeit seines Schützlings wahrzunehmen.

Johannes war in der Zwischenzeit nicht untätig. Auf dem Bullerofen hatte er Kaffee aufgewärmt, Brot und Corned Beef zurechtgelegt und den Tisch gedeckt. Er fragte seine Schutzbefohlene, ob sie fertig sei, und als er ein „Si“ hörte, bat er sie zum Essen. Mit ungläubigen Augen sah die Kleine sich um, und dann machte sich das ausgehungerte Kind über das Essen her.

Vorsichtig, so berichtet Feuser in seinen Erinnerungen, stellte Johannes Fragen – ohne aufdringlich zu erscheinen, ohne zu verletzen. Nein, ein Zuhause hatte das Mädchen nicht mehr, die Umstände hatten es von Zuhause fortgetrieben. Ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Freunde, hatte sie sich den Damen des horizontalen Gewerbes anvertraut. So im Lager angekommen, hatte sie eine Katastrophe erlebt. Ohne jede Erfahrung, zu jung, um das Erwartete mitzumachen, hatte sie sich verweigert. Daraufhin war sie vergewaltigt worden. Ohne Mitleid war sie danach vor die Türe gesetzt worden, mitten in der Nacht bei strömendem Regen.

Johannes richtete sich vor seiner Koje einen Schlafplatz ein. Seine Schutzbefohlene schlief hinter der Decke in Johannes Bett. Beeindruckt akzeptierten die Zeltgenossen Johannes Fürsorge. Und auch Feuser und übrigen Mitbewohner halfen dem Kind. Mehrere Tage wohnte es mit den Kriegsgefangenen zusammen, bis Johannes außerhalb des Lagers Kontakte eine Bleibe für sein Mündel gefunden hatte.