Willich Die Schlossfestspiele gastieren in Schulen
Isabell Dachsteiner als Anne Frank las in der Robert-Schuman-Schule aus dem berühmten Tagebuch. Weitere Lesungen der „Jungen Festspiele“ folgen.
Willich. Die Augen der Neuntklässler der Robert-Schuman-Europaschule sind neugierig auf die junge Frau in dem blauen Kleid gerichtet. Eine dicke Kladde fest an sich gepresst, steht sie vor der Leinwand im Studien- und Arbeitszentrum (SAZ) der Gesamtschule. Auf der Leinwand ist in großen Buchstaben „Das Tagebuch der Anne Frank“ zu lesen.
Im SAZ ist es mucksmäuschenstill, als plötzlich das laute und rasche Anschlagen von Schreibmaschinentasten zu hören ist. Auf der Leinwand erscheint Buchstabe für Buchstabe und informiert die Schüler über die Situation der Juden im Jahr 1933. Boykottkampagnen, die „Arisierung“ jüdischer Wirtschaftsbetriebe, die Aktion „Juden unerwünscht“ — die Zeit des Nationalsozialismus erwacht zum Leben.
Ein Sprecher berichtet von der gescheiterten Konferenz von Evian. Die ersten Bilder der Massendeportationen laufen über die Leinwand. „Papier ist geduldiger als Menschen“, ist auf einmal die Stimme der jungen Frau zu hören. Sie geht zum Tisch, setzt sich und schlägt die Kladde auf. Es ist ihr Tagebuch, und sie ist niemand anderes als Anne Frank, gespielt von Isabell Dachsteiner von den Jungen Schlossfestspielen Neersen.
Unter dem Titel „Lesungen zu Anne Frank“ sind die Jungen Schlossfestspiele in der Gesamtschule zu Gast und machen damit nicht nur den Auftakt zum Programm der Neersener Sommertheaters, sondern feiern gleichzeitig eine ganz besondere Premiere. „Wir gehen in diesem Jahr zum ersten Mal in die Schulen — und das mit einer eigens dafür entwickelten szenischen Lesung“, berichtet Sven Post, der die Regie innehat. Dabei liest Dachsteiner nicht einfach nur Ausschnitte aus dem Buch, das wohl die eindringlichsten Aufzeichnungen aus der Zeit des Nationalsozialismus widerspiegelt. Sie ist Anne Frank, die ihrem Tagebuch, das ihre imaginäre Freundin Kitty darstellt, ihre Gedanken, Gefühle, Sorgen, Ängste und Wünsche anvertraut.
Die Schüler gehen mit auf eine Reise, die für Anne Frank tödlich endet. Dachsteiner beginnt am 20. Juni 1942. „Liebe Kitty, unser Leben verlief nicht ohne Aufregungen. Seit Mai geht es bergab, und das Elend der Juden begann“, startet Dachsteiner. Sie erzählt davon, wie der Judenstern getragen werden muss, Juden ihre Fahrräder abgeben müssen, nicht mehr Straßenbahn und Auto fahren dürfen, Schwimmbäder und Sportplätze nicht mehr nutzen dürfen und die Zeit des Einkaufs auf 15 bis 17 Uhr beschränkt wird. Aus Dachsteiners Stimme klingt die Fassungslosigkeit über diese Dinge.
Aber es kommt noch schlimmer, wie die Schauspielerin mittels des Tagebuchauszuges vom 8. Juli 1942 dokumentiert: Der Aufruf von der SS für den Vater geht ein, und damit zieht die Familie Frank mit einer weiteren Familie zunächst zu siebt in ihr Versteck. Dachsteiner fesselt die Schüler, wobei auf der Leinwand entsprechende dokumentarische Szenen ablaufen. Menschen, die den Judenstern auf Schaufenster aufbringen, der Brief von Annes Vater an einen Freund in Amerika, den er um Hilfe bittet — die Schüler stecken mitten in der Geschichte, die Millionen von Menschen ungeheures Leid brachte.
„Mir war es wichtig, dass die Schüler, nachdem wir uns mit dem Lesebuch zum Tagebuch beschäftigt hatten, noch einmal die Gelegenheit erhielten, tiefer in die Geschichte einzutauchen. Das geht sonst zu schnell verloren. Die Lesung als Form finde ich hervorragend, weil es etwas ist, das die Schüler nicht so oft erleben und was daher einen Eindruck hinterlässt“, sagt Deutschlehrer Florian Dülks. Und Eindruck hinterlässt die Lesung, wie an den nachdenklichen Mienen und dem sich anschließenden Austausch mit Dachsteiner und Post zu merken ist.