Unglücks-Ereignisse Lehren aus verkorkstem Loveparade-Verfahren

DÜSSELDORF · Expertenkommission: Außergewöhnliche Unglücke sollten künftig nicht nur von Gerichten, sondern auch von einem neu zu schaffenden Untersuchungsgremium analysiert werden.

Bei der Loveparade waren vor zwölf Jahren 21 Menschen gestorben und mehr als 500 verletzt worden. Ein Strafverfahren gegen ursprünglich zehn Angeklagte war 2020 nach zweieinhalb Jahren und 184 Sitzungstagen ohne ein Urteil eingestellt worden.

Foto: dpa/Marcel Kusch

Es war für die Angehörigen der 21 Todesopfer der erwartet unglückliche Moment – als das Landgericht Duisburg am 4. Mai 2020 nach 184 Verhandlungstagen das Strafverfahren um die Loveparade-Katastrophe ohne Urteil einstellte. Wegen der kurze Zeit später eintretenden Verjährung war juristisch kaum eine andere Reaktion auf die Katastrophe vom 24. Juli 2010 möglich, bei der 21 Menschen starben und mehr 500 im Gedränge des Musikfestivals verletzt wurden. Zu lange hatte ein juristisches Hin und Her schon vor Prozessbeginn so viel Zeit gekostet, dass kaum noch etwas zu retten war.

Auch wenn es in diesem Fall nicht mehr weiterhilft: Es müssen Lehren gezogen werden. Das forderte daraufhin der NRW-Landtag und erteilte der Landesregierung den Auftrag, die Möglichkeiten und Grenzen von komplexen gerichtlichen Prozessen zu analysieren und Vorschläge zu erarbeiten, wie eine bessere Aufarbeitung zukünftig erfolgen kann. Entsprechend setzte Justizminister Peter Biesenbach (CDU) im Oktober 2020 eine Kommission unabhängiger Expertinnen und Experten ein. Diese solle entsprechende Analysen erstellen und Vorschläge erarbeiten. Bevor am Montag im Oberlandesgericht Düsseldorf die Ergebnisse vorgestellt wurden, betonte Biesenbach, ihm sei besonders wichtig: „Es gab keine inhaltlichen Vorgaben, es gab keine Denkverbote.“

Ein Strafprozess allein kann
nicht alles aufklären

Kommissionsvorsitzender Clemens Lückemann, ein früherer Staatsanwalt und Richter, stellte die wesentlichen Ergebnisse vor. Und die in dem 140-Seiten-Bericht enthaltenen Empfehlungen, wie komplexe Unglücksereignisse wie die Loveparade-Katastrophe, aber auch andere denkbare Unglücke wie Großbrände, Brückeneinstürze, Hochwasser oder Havarien in Chemiebetrieben besser aufgearbeitet werden können. Um daraus zu lernen und ähnliche Ereignisse zu vermeiden.

Der wohl wichtigste Vorschlag: Es dürften nach einem solchen Ereignis eben nicht nur die strafrechtlich relevanten Ursachen aufgeklärt werden. Sondern auch andere Faktoren, die das Unglück begünstigt haben. Ein Strafverfahren allein könnte diesem Anspruch nicht gerecht werden. Denn hier wird ja „nur“ geprüft, wer welche strafrechtlich relevanten Fehler gemacht hat. Lückemann: „Es bleibt um den strafrechtlich relevanten Kern herum viel Aufklärungsbedarf, zum Beispiel zu Rahmenbedingungen, zu Risikomanagement und zu Organisationseinflüssen.“

Solche Dinge wurden zwar auch im Loveparade-Strafprozess am Rande immer wieder gestreift. Insbesondere dem Ereignis weit vorgelagerte Entscheidungen oder auch politische Einflüsse, ob solch ein Ereignis überhaupt stattfinden soll. Aber die Richter mussten sich mit der möglichen Schuld der Angeklagten befassen. Sie mussten einen professionell verengten Blick haben.

Daher die Forderung der Expertenkommission: Es brauche nach solch dramatischen und komplexen Unglücken ein „ergänzendes besonderes Unfalluntersuchungsverfahren.“ So etwas gebe es schon jetzt bei Flugunfalluntersuchungen.

Aber wer soll solche Untersuchungen durchführen? Ein Untersuchungsausschuss des Landtags? Auch daran wurde ja nach dem Loveparade-Unglück und der verkorksten juristischen Aufarbeitung schon gedacht. Doch das hätte das Ganze vielleicht noch schlimmer für die Betroffenen gemacht – wenn nämlich deren Belange unter die Räder des politischen Streits gelangt wären. Ein Beispiel dafür bietet derzeit der Untersuchungsausschuss in Sachen Hochwasserkatastrophe. 

Die Kommission schlägt vielmehr eine gemeinsame Bund-Länder-Einrichtung vor. Sei diese einmal etabliert, solle sie vorsorglich Sachverständige für alle denkbaren Unglücksereignisse finden, derer sie sich im Ernstfall bedienen kann. Ohne dabei an die verengten strafrechtlichen Fragestellungen gebunden zu sein, könnte diese Einrichtung nach einem Unglück alle Hintergründe durchleuchten und daraus dann Vorschläge zur Verhütung entsprechender Katastrophen erarbeiten. 

Mehr Opferschutz, andere Verjährungsregeln

Zwei weitere Kernpunkte aus dem ausführlichen Papier betonte Lückemann: Es müsse besseren Opferschutz geben. Die Vertretung der Opferinteressen solle nicht mehr allein bei den Betroffenen und ihren (Nebenkläger-)Anwälten liegen. Es müsse einen sogenannten „Opferstaatsanwalt“ geben, der Ansprechperson für die Betroffenen wäre. Opferschutz müsse auch durch leichtere Entschädigungsregelungen für die Betroffenen schon im Strafprozess geschaffen werden. 

Und bei den Verjährungsregeln bestehe Reformbedarf. Beim Loveparade-Prozess wurde dieser Aspekt besonders deutlich. Schon bei Beginn war allen Beteiligten klar, dass die Zeit nicht reichen würde, um zu einem Urteil zu kommen. Zu kurze Fristen bzw. zu enge Regeln, wann die Verjährung ruht oder unterbrochen wird, führen zu unbefriedigenden Alternativen, die Lückemann so beschreibt: Entweder werde eine Scheinverhandlung geführt, weil klar ist, dass es zu einem Urteil nicht kommen kann. Oder es gebe ein nicht weniger befriedigendes „Hau-Ruck-Verfahren“.