Trotz Wachstums: Die Industrie verliert in Gladbach an Stellenwert
Die Stadt ist zum Dienstleistungsstandort geworden. Das ist das Fazit einer Untersuchung von Professor Rüdiger Hamm.
Zahlen lügen eigentlich nicht. Aber sie können oft auch nicht das ausdrücken, was gerade vor sich geht. Die Zahl 18,6 zum Beispiel sagt laut amtlicher Statistik von it.NRW eigentlich aus, wie gut es der Industrie in Mönchengladbach gehen müsste. 18,6 Prozent nämlich betrug im Jahr 2017 das wirtschaftliche Wachstum des produzierenden Gewerbes in der Stadt. Wachstum! Mehr als 4,1 Milliarden Euro Umsatz nach 3,5 Milliarden im Jahr 2016. Ja wohin also mit all dem Wachstum?
Die Statistik kam wenige Tage vor dem angekündigten Stellenabbau bei der SMS Group, die allein in Mönchengladbach 280 Jobs streichen möchte. Während das Transformatorenwerk von General Electric an der Rheinstraße um den Erhalt von 371 Arbeitsplätzen kämpft. Und nur wenige Monate nachdem Schorch in der Insolvenz 144 Mitarbeiter entlassen musste. Drei absolute Traditionsbetriebe, Grundpfeiler der Gladbacher Industrie, lassen Federn — wenn auch aus sehr unterschiedlichen und nicht in jedem Fall nachvollziehbaren Gründen. Erzählen Sie diesen top ausgebildeten und gut bezahlten Mitarbeitern mal etwas von Wachstum oder Fachkräftemangel.
Wie geht es denn der Gladbacher Industrie nun, die in den vergangenen 20 Jahren eine Menge Traditionsbetriebe verloren hat? Fragt man Professor Rüdiger Hamm von der Hochschule Niederrhein, dann bekommt man ein eindeutiges Fazit: „Mönchengladbach hat in den vergangenen Jahren überdurchschnittliche Beschäftigungseinbußen in wichtigen Industrien hinnehmen müssen“, sagte Hamm, der für die Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein eine Standortanalyse erstellt hat, die er jetzt vorstellte. „Das konnte durch Beschäftigungsgewinne kleinerer Industriezweige nicht kompensiert werden.“
Natürlich ist die Wirtschaft in Mönchengladbach in den Jahren 2000 bis 2015 kräftig gewachsen, und zwar um 32,4 Prozent, wie Hamm errechnet hat, etwas weniger als im NRW-Landesdurchschnitt (38 Prozent). In Nordrhein-Westfalen sind aber auch die Industrie und das produzierende Gewerbe in dem Zeitraum um 26,5 Prozent gewachsen. Mönchengladbachs Industrie aber steht schlechter da als im Jahr 2000. Sie schrumpfte um 3,1 Prozent. „Die wirtschaftliche Entwicklung des produzierenden Gewerbes ist in Mönchengladbach erkennbar hinter dem Land zurückgeblieben“, sagt Hamm. Erkennbar sind dies noch immer Folgen der Weltwirtschaftskrise 2009 und 2010. Die hat Gladbachs Industrie anders als im Land und im Bund nicht mehr überwunden.
Mönchengladbachs Wirtschaftsboom und Jobwunder (fast 97.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze) ist eindeutig auf den Dienstleistungssektor zurückzuführen, der inzwischen 77,5 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht (landesweit 72 Prozent). Die Industrie und das produzierende Gewerbe machen nur noch 22,4 Prozent aus (landesweit sind es fast 28 Prozent). Noch deutlicher lässt sich diese Entwicklung an den Arbeitsplätzen ablesen: Im Jahr 2008 noch verdiente 22 Prozent der Arbeitnehmer in Mönchengladbach ihr Geld in einem industriellen Betrieb. 2017 waren es noch knapp 16,5 Prozent. Die Deindustrialisierung, die natürlich überall vonstattengeht, sie ist in Mönchengladbach in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten deutlich schneller vorangegangen. „Mönchengladbach ist mittlerweile ein Dienstleistungsstandort“, sagt Rüdiger Hamm. „Verkehr und Großhandel sind die großen Stärken des Standortes geworden.“
Schaut man sich die wichtigsten Branchen in der Stadt an, dann liegen abgesehen vom Baugewerbe auf den ersten neun Plätzen etwa Gesundheit, Verkehr, Verwaltung, Handel, Kredit und Versicherungen, Dienstleistungen für Unternehmen. Und erst auf dem zehnten Platz liegt in der Hamms Analyse der erste Industriezweig: Noch immer ist der Maschinenbau die wichtigste Industrie. 3900 Menschen verdienen ihr Geld in dieser Branche, das sind 21 Prozent weniger als im Jahr 2008. Landesweit gibt es aber 3,3 Prozent mehr Maschinenbauer als noch vor zehn Jahren. Auch die Textil- und Bekleidungsindustrie (-342 Arbeitsplätze), Metallerzeugung (-289), Herstellung von elektrischen Ausrüstungen (-264) sowie das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe (-258) haben Jobs eingebüßt. Das konnte vom Fahrzeugbau (+221 Arbeitsplätze), Metallerzeugnissen (201), der chemischen Industrie (141) und der Entsorgungswirtschaft (111) nicht aufgefangen werden. Vorhandene Wachstumspotenziale, so Hamm in seiner Analyse, wurden mithin nicht ausgeschöpft — ein Hinweis „auf ungünstige industrielle Standortgegebenheiten in der Stadt Mönchengladbach“.
Es gibt viele Jobmotoren in der Stadt, keine Frage. Aber sie sind immer weniger in der Industrie zu finden.