Nach Wolfsattacke Nach tödlichen Wolfs-Attacken - Wie „GW954f“ den Niederrhein spaltet
Borken/Bottrop · Nach mehr als hundert Jahren ist der Wolf zurück am Niederrhein - und beißt zu. Bei den Menschen sorgt „GW954f“ für Angst, Schrecken und geteilte Meinungen. Eine Spurensuche im Wolfsgebiet.
Als Henry Benien mit dem blauen Futtereimer über den Zaun steigt, drängt sich Otto sofort gierig gegen ihn. Die Fresslust des kleinen Schafsbock hat über seine Angst gesiegt. Wochenlang waren Otto und seine drei Damen geflüchtet, sobald sie eine Bewegung in der Nähe ihrer Weide witterten. Ganz genau seit dem 15. September – dieses Datum vergisst Landwirt Benien so schnell nicht. Wo er jetzt mit dem Futtereimer steht, lagen an jenem Tag ein totes Schaf und eines, das der Tierarzt rasch erlösen musste. Zwei der noch lebenden Tiere hatten Bissverletzungen. Sie stammten – das hat ein DNA-Beweis ergeben – von „GW954f“, der ersten in NRW heimischen Wölfin. „Der Sandkasten meiner Kinder steht 15 Meter entfernt“, sagt Henry Benien.
Anfang Oktober hatte Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) verkündet, dass NRW das erste Wolfsgebiet ausweise. Der Wolf – Fabelwesen, Märchenfigur, Horrorfilmvorlage – fasziniert Menschen seit jeher und es schwang Aufgeregtheit mit, dass unser Land jetzt „seinen eigenen“ hat. Das Wolfsgebiet sei aber auch Förderraum, um Nutztierhalter vor „German Wolf 954 female“ – Namen erhalten nur Tiere, die mit Sender gekennzeichnet sind – zu schützen, indem das Land etwa für Stromzäune zahle. Und für tote Tiere.
Landwirt sollte 21,56 Euro für zwei tote Schafe erhalten
Darüber kann Henry Benien auf seinem Pferdehof in Kirchhellen nur schmunzeln. 21,56 Euro wurden ihm als Entschädigung für seine zwei französischen Mini-Schafe angeboten – sechs hatte er insgesamt, „für jedes Familienmitglied eins“; es waren zwei seiner vier Kinder, die die Wölfin dahinraffte. Der 43-Jährige ist eigentlich kein Bedenkenträger, aber die Wolfsattacke zehn Meter von seiner Haustür entfernt ist an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. „Es ist ein komisches Gefühl – weil es ja auch neu ist.“
Ähnlich geht es Christina Pehlke, deren Kaltblutstute auf Beniens Hof lebt. Sie glaubt, den ersten NRW-Wolf vor etwa einem halben Jahr sogar selbst gesehen zu haben. Sie war mit dem Auto unterwegs und sah einen – wie sie damals zunächst glaubte – großen, beigefarbenen, ziemlich verfilzten Hund, der hysterisch in die Hauseingänge an einer Straße im Dorf rannte und wieder hinaus. Sie habe die Polizei gerufen, doch die habe nicht reagiert. Also habe sie mit anderen Passanten versucht, das Tier einzukreisen – bis es plötzlich verschwunden war. Nachdem sie Bilder von der Wölfin gesehen hat, ist sie fast sicher, dass sie keinem Hund nachgejagt ist, sondern „GW954f“.
Und war es das einzige Mal, dass die Kirchhellenerin dem Raubtier nah war? Als sie neulich spätabends mit einer anderen Reiterin noch im Stall war, gingen ganz plötzlich die Rentnerpferde auf einer der Weiden durch, galoppierten kopflos umher. „Wir waren ganz schnell in unseren Autos!“ Ein andermal trampelten zwei Stuten, die Fohlen haben, einen Zaun anscheinend grundlos nieder. Derlei Erlebnisse seien „Thema Nummer eins“ im Ort. „Früher hat man sich nichts gedacht“, sagt Christina Pehlke. „Heute denkt man gleich an den Wolf. Er hat wirklich viel verändert.“ Auf ihre abendliche Gassirunde mit ihrer kleinen Beagle-Hündin über die Felder hinter dem Reitstall traut sie sich gar nicht mehr. „Es ist mir zu nah“, gibt Pehlke – sonst große Tierfreundin und sogar Vegetarierin – zu.
In Raesfeld sorgt man sich, ob der scheue Wolf auch scheu bleibt
Der Wolf spaltet NRW. Vor allem die Menschen in NRW, die in Landesämtern und Ministerien sitzen und vor allem auf den hohen Schutz schauen, den der Wolf genießt, und die Menschen, die mit ihm als Nachbarn nun leben sollen. Aber auch die Menschen im Wolfsgebiet selbst. Jeder dort spricht über ihn. Aber manche tun das lieber nur noch hinter vorgehaltener Hand. Ein Lokalpolitiker, der drastische Maßnahmen gegen „GW954f“ gefordert hatte, hat im Anschluss Drohungen erhalten und will seinen Namen nicht mehr in der Zeitung lesen. Bei einem Bürgerforum in Schermbeck, bei dem das Land über das Wolfsgebiet informierte, fragte die Leiterin des Waldkindergartens „Waldwurm“ in Raesfeld im Kreis Borken besorgt nach, ob es eine Gefahr für die Kleinen gebe – und bekam den Expertentipp, die Kinder mit Trillerpfeifen zu wappnen. Auch dies erzeugte ein solches Medienecho in der Region, dass die Kita-Mitarbeiter keine Interviews mehr geben wollen.
Der Bauwagen der „Waldwürmer“ steht zwischen goldbraun belaubten Bäumen in Sichtweite des Raesfelder Schlosses. Die Kinder sind an diesem Morgen wie immer im Wald unterwegs. Ebenso wie Renate Kuhmann mit ihrem Walking-Stöcken. „Es ist ein heikles Thema“, sagt die 61-Jährige. „Einerseits ist es schön, dass der Wolf sich jetzt hier ansiedelt.“ Andererseits versteht sie die Sorgen der Erzieherinnen und Eltern, auch die der Nutztierhalter.
„Er soll ja scheu sein“, sagt Roland Schulz (60), der den sonnigen Herbsttag zum Wandern nutzt. „Aber vielleicht legt er das ja ab. Das ist bei vielen Kulturfolgern unter den Tieren so. In Rumänien kommen die Bären jetzt auch bis an die Mülltonnen.“ Und was, wenn sich dann noch ein Rudel bildet? Eine Raesfelderin hingegen, die gerade ihr Enkelkind sorglos durch den Wald schiebt, findet „die ganze Diskussion völlig überzogen“. Es „ist doch wunderbar“, dass der Wolf zurück in NRW sei.
Henry Benien aus Bottrop-Kirchhellen wäre es am liebsten, man würde die Wölfin einfangen und aussetzen, wo sie nicht an Wohngebiete herankommt. Aber bislang sei die Aussage, dass das Tier „entnommen“ – also abgeschossen – würde, wenn es auffällig wäre. Etwa einen Menschen attackiert. Ein Tierriss direkt vor der Haustür falle nicht darunter. „Es muss erst etwas passieren“, sagt Benien. „Ich brauch’ den Wolf hier definitiv nicht.“