NS-Terror Die Pogromopfer haben jetzt einen Namen
Düsseldorf · Düsseldorfer Forscher haben 80 Jahre nach der Terrornacht für das heutige NRW-Gebiet die Zahl der Toten ermittelt: Mindestens 127 Menschen starben.
Hannah Oppenheimer war drei Jahre alt, als ein gutes Dutzend betrunkener SA-Männer am 10. November 1938 um 1 Uhr früh die Wohnung ihrer Eltern in Düsseldorf stürmten. Ihre Mutter wurde schwer am Kopf verletzt und fürchtete zu sterben, der Mob schlug auch den Vater zusammen. Und Hannah, so schreibt es ihre Mutter ein Jahr später ins Kindertagebuch, kniete derweil zitternd und lautlos in ihrem Bettchen. Später sagte sie fassungslos: „Alles kaputt.“
Hannah und ihre Eltern überlebten die Reichspogromnacht und konnten über England in die USA fliehen. Anlässlich des 79. Jahrestages der Novemberpogrome besuchte Hannah Green-Sutton vor einem Jahr noch einmal ihre alte Heimatstadt. Im vergangenen Monat ist sie dann im Alter von 83 Jahren gestorben. Viele andere Juden haben die Exzessnacht, die sich am Ende dieser Woche zum 80. Mal jährt, dagegen nicht überlebt.
Dank eines Forschungsprojekts der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf ist nun erstmals zumindest für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen ermittelt, wie viele Menschen durch die Gewalt in der Nacht oder in unmittelbarem Zusammenhang damit starben: Es waren mindestens 127 in 62 Orten.
Alte NS-Zahl der Opfer hält sich bis heute in den Schulbüchern
Bei jedem Terrorangriff und jeder Naturkatastrophe gelte eine der ersten Fragen immer der Zahl der Toten, sagte Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte, bei der Vorstellung der Ergebnisse. „Daher hat es uns gewundert, dass diese Frage dann bei diesem sehr, sehr prominenten Ereignis von der Historikerzunft bisher so nicht gestellt worden ist.“ Bis in die Schulbücher der Gegenwart hält sich die noch von den Nazi-Behörden stammende Zahl von 91 Toten – im gesamten Reichsgebiet, das 1938 auch Österreich, das Sudetenland, Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien umfasste. Allein im nördlichen Rheinland und in Westfalen, das hat die seit Februar dieses Jahres laufende Forschung nun belegt, wird diese Zahl schon übertroffen.
Mehr als 420 Archive, Gedenkstätten, Forschungseinrichtungen und Spezialbibliotheken wurden befragt. Die Rücklaufquote aus den 396 Städten und Gemeinden in NRW und den 31 Kreisarchiven betrug am Ende 98 Prozent. Dabei lieferte in vielen Fällen auch die „Geschichte von unten“ Ergebnisse: Recherchen von lokalhistorisch engagierten Bürgern oder Einrichtungen vor Ort.
Gefördert wurde das Forschungsprojekt durch die Landeszentrale für politische Bildung NRW. Als wichtigstes Ergebnis bezeichnete Klaus Kaiser, Parlamentarischer Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium, dass es gelungen sei, die Identität aller 127 Ermordeten und in den Tod Getriebenen zu ermitteln. „Das sind keine anonymen Toten, sondern die Opfer haben einen Namen und eine eigene Geschichte.“ Im gut 200 Seiten starken Abschlussbericht, der maßgeblich von den Projektmitarbeitern Immo Schatzschneider und Gerd Genger erstellt wurde, ist an biografischen Notizen zusammengetragen, was auffindbar war.
Wie bei Paul Marcus, Inhaber des Düsseldorfer Restaurants Karema. In der Pogromnacht versuchte er vor den Nazihorden zu fliehen, als sein Restaurant überfallen wurde. Am Morgen des 10. November wurde er dann tot auf dem Martin-Luther-Platz gefunden – ermordet von drei Schüssen in die Brust.
In Köln war lange nur der Fall des jüdischen Friseurs Moritz Spiro bekannt, der erschlagen wurde, als er die Zertrümmerung seines Ladenlokals verhindern wollte. Durch das Projekt und die damit verbundenen Nachforschungen sind jetzt fünf Tote aktenkundig. In Düsseldorf sind es 14, in Hilden sieben. Exzesse gab es in der Stadt genauso wie auf dem Land. In Lünen wurde ein Mann so lange durch die Stadt gehetzt, bis er in die Lippe sprang und ertrank. In Rheine sprang eine 79-Jährige in Panik aus dem Fenster und starb.
Was bleibt, sind landesweit weiße Flecken – wobei Forscher Genger vermutet: „Die weißen Flecken sind auch reingewaschene Flecken.“ Will heißen: Forschen kann man nur dort, wo es noch Unterlagen gibt. Vieles ist aber gezielt vernichtet worden, um Spuren zu verwischen.
Auch wenn der Bericht jetzt vorliegt, tauchen immer wieder neue Hinweise auf, so auf ein möglicherweise weiteres Opfer in Dinslaken. Mit dem Projekt verbinden sich daher drei Hoffnungen: dass es in einer Art und Weise publiziert wird, die eine Fortschreibung ermöglicht; dass es anderen Bundesländern als Vorbild dient, um ihrerseits Opferzahlen zu ermitteln; und dass die Schulbücher endlich an dieser Stelle die überfällige Korrektur erfahren.