Aus Beruf wurde Berufung
Ingrid Herbst hat ihr bisheriges Leben Pflegekindern untergeordnet. Es begann mit einem Tagespflegekind. Später nahm sie ein schwer misshandeltes Mädchen auf.
Büderich. Wenn es um Nächstenliebe geht, kann Ingrid Herbst so schnell keiner das Wasser reichen. Mitte Dezember erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. 13 Pflegekinder, oft geistig oder körperlich behindert, habe sie aufgenommen und großgezogen, hob der stellvertretende Landrat Hans-Ulrich Klose in seiner Laudatio hervor.
Wenn die Büdericherin spontan überschlägt, waren es wohl eher 19. „Ich habe ein wenig den Überblick verloren. Es waren ja auch viele Tageskinder, akute Notfälle und Urlaubsvertretungen dabei“, entschuldigt sich Ingrid Herbst.
Ihr Vater war Küster in der Bethlehemkirche. Die Tochter griff schon damals gerne den Erzieherinnen im Kindergarten unter die Arme. Diesen Beruf wollte sie ergreifen. Doch als Ingrid Herbst Leiterin eines Kindergartens in Hagen wurde, kam ihr eigener Sohn zu kurz. „Ich konnte täglich bis zu 91 Kindern helfen, nur mein eigenes fühlte sich einsam.“ Sie gab den Beruf auf, um ihrer Berufung zu folgen.
Es begann mit einem Tagespflegekind. Später nahm sie ein schwer misshandeltes Mädchen auf. „Doch ihre Sehnsucht nach einem Vater war zu groß. Sie hat wirklich gute Adoptiveltern gefunden“, blickt Herbst zufrieden zurück. Dem Mädchen folgte ein behinderter Junge. „Ob ich mir das denn wirklich antun wolle, hat mich das Amt damals gefragt. Doch diese Bemerkung hat mich nur noch mehr angestachelt“, erzählt die heute 65-Jährige.
Ingrid Herbst lebt inzwischen längst wieder in Büderich — in einem Hexenhaus, wie sie es selbst nennt, das gleich neben dem Abenteuerspielplatz in der Böhlersiedlung liegt. Viele Kinder hat die Bundesverdienstkreuzträgerin seitdem bei sich aufgenommen und wie ihre eigenen behandelt. „Wenn ich den Namen von dem Kind erfuhr, war ich schon verloren“, sagt sie lächelnd.
Autisten waren ebenso darunter wie Kinder mit Diabetes. Zeitweise lebte sie mit drei Schwerbehinderten gleichzeitig unter einem Dach. „Das ist natürlich nicht immer leicht, man muss dem alles unterordnen und bekommt auch manches Mal Stöcke zwischen die Beine geworfen“, sagt die Pflegemutter. Beschweren will sie sich aber nicht: „Wenn ein autistisches Kind dich plötzlich anlacht, ist der Tag gerettet.“ Dennoch: Es habe Nachbarn gegeben, die sich beklagten, wenn die Kinder mal lauter wurden.
Als Ingrid Herbst noch in Hagen lebte, hätten Jugendamt-Mitarbeiter dort auch schon mal Kinder bei ihr abgegeben und nur lapidar gesagt: „Sie machen das schon.“ Vergleichbare Erfahrungen habe sie in Meerbusch jedoch nie gemacht: „Das Jugendamt hier bekommt von mir eine Eins plus.“
Hilfe hat sie nie gewollt. Das Geld reichte immer so gerade eben. „315 Mark im Monat gab es für ein Kind, ab sechs Jahren dann 500 Mark. Irgendwann hat mir mal einer gesagt, für ein behindertes Kind hätte ich ein Anrecht auf 100 Mark mehr im Monat. Da habe ich lange Zeit viel Geld verschenkt.“
Nur ein Hobby hat sich Ingrid Herbst geleistet, und auch das hängt natürlich mit ihren Kindern zusammen: „Ich hatte immer Katzen, habe früher sogar Karthäuser gezüchtet. Es war mir wichtig, dass meine Kinder den Umgang mit Tieren lernen.“
Ihr letztes Pflegekind ist im August dieses Jahres ausgezogen. „Das klingt zwar doof, aber ich habe mittlerweile meine innere Mitte gefunden, bin ruhiger geworden. Und drehe mich auch nicht gleich erschrocken um, wenn auf der Straße ein Kind ’Mama’ schreit.“ Die 65-Jährige geht jetzt vor allem in der Rolle der Oma auf. Bereits zum zweiten Mal kündigt sich Nachwuchs an. Dass es nicht ihr biologischer Enkel sein wird, stört die Büdericherin dabei wenig.
Ingrid Herbst ist vor allem stolz, dass fast alle ihre Pflegekinder einen Platz im Leben gefunden und sogar „ordentliche Berufe“ ergriffen haben. Ein Polizei-Hauptkommissar ist ebenso darunter wie ein Gartenbauarchitekt. Nur bei einem Jungen war auch die Pflegemutter eines Tages mit ihrem Latein am Ende: „Er musste nach fünf Jahren bei mir in die Psychiatrie. Da habe ich dann wohl versagt“, sagt sie trocken.