Neuss erinnert an Novemberpogrome „Nie wieder ist jetzt“
Neuss · Rund 300 Menschen haben an diesem Donnerstag in Neuss der Opfer der Novemberpogrome gedacht. Unter anderem mit dabei: Bürgermeister Reiner Breuer und Bert Römgens von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. In ihren Reden haben sie an die Opfer von Hass und Gewalt erinnert — und Stellung zum Nahostkonflikt bezogen.
„Genau da stand sie“, sagt Bert Römgens von der Jüdischen Gemeinde in Neuss und Düsseldorf und deutet mit dem Finger auf die gegenüberliegende Straßenseite. Er meint die ehemalige Synagoge der jüdischen Gemeinde in Neuss, die einst an der Promenadenstraße auf Höhe der Bushaltestelle stand. 1938 wurde das Gebäude im Rahmen der sogenannten Novemberpogrome in Brand gesteckt. Dieses Jahr haben sich die Ereignisse dieser Nacht zum 85. Mal gejährt.
Zwei große Blumengestecke stehen an diesem Donnerstag, 9. November, vor dem Mahnmal in der Grünanlage an der Promenadenstraße: Einer von der Stadt Neuss und einer von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Im Halbkreis darum: Eine große Menschenansammlung. Eine Sprecherin der Stadt spricht von rund 300 Teilnehmern – „gefühlt mehr als in den letzten Jahren.“ Sie alle haben sich versammelt, um der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Neben Bert Römgens sind auch der Neusser Bürgermeister Reiner Breuer, die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Neuss, Dorothea Gravemann sowie mehrere Schülerinnen und Schüler des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums anwesend. Gemeinsam haben sie die Gestaltung der einstündigen Gedenkveranstaltung übernommen.
Mehr als 200 Jüdinnen und Juden – so viele Menschen sind damals in Neuss durch die Taten des NS-Regimes in den Tod getrieben worden. In seiner Rede erinnert Bert Römgens an sie, erinnert an „Gemeindemitglieder, die aus ihren Häusern gezerrt, durch die Straßen gehetzt, blutig misshandelt und verhöhnt“ wurden. Die Schülerinnen und Schüler des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums beleuchten außerdem die Einzelschicksale: Leonard Kaufmans, der weinend aufs Dach seines Hauses floh, bevor er von Anhängern des NS-Regimes misshandelt wurde. Der pflegebedürftige Aron Heumann, der unter Hohn den Gehweg vor den noch qualmenden Überresten der Synagoge reinigen musste.
Neben den Novemberpogromen ist auch ein anderes Thema an diesem Gedenktag unumgänglich: der Nahostkonflikt ist allgegenwärtig. Bei den unterschiedlichen Redebeiträgen schwingt Wut mit und Frustration – über den Terror, über Antizionismus und die zunehmende Anzahl judenfeindlicher Übergriffe in Deutschland. Die Worte fallen scharf und klar aus. Der allgegenwärtige Antisemitismus sei einfach „bitter“, heißt es beispielsweise in der Rede von Bürgermeister Reiner Breuer und es kämen Zweifel auf, ob Deutschland wirklich aus seiner Geschichte gelernt hätte. Seine Gedanken seien bei all den Menschen, die unter dem Terrorismus der Hamas im Nahen Osten leiden – damit wären explizit auch die unschuldigen Menschen aus Palästina gemeint. Breuer solidarisiert sich mit der Neusser Partnerstadt Herzliya. Die Gesellschaft müsse sich mit allen Mitteln gegen Antisemitismus zur Wehr setzen und für eine friedfertige, vielfältige und tolerante Stadtgesellschaft einstehen.
Ähnlich klingen die Worte der Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Dorothea Gravemann. Wenn Jüdinnen und Juden sich in ihren Erfahrungen und mit ihrer Not alleine gelassen fühlen würden, „dann haben wir als Zivilgesellschaft versagt.“ Dem schließt sich auch Bert Römgens an. Die Aufgabe gegen Antisemitismus und antiisraelische Demonstrationen anzugehen, sei keine Aufgabe der Jüdischen Gemeinschaft – Antisemitismus betreffe die komplette Gesellschaft. Das Töten von jüdischen Menschen habe nicht mit dem Bauen von Gaskammern begonnen, ergänzt Römgens noch. „Sondern mit Ausgrenzung.“ In einem kurzen Zwischenschub spricht der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf und Neuss davon, Angst zu haben. „Nie wieder ist jetzt.“
Am Ende der Gedenkstunde singt Rabbiner Benzion Dov Kaplan noch das jüdische Totengebet El male rachamim. Während des Gesangs ist es ganz still. Danach leert sich der Park schnell – aber die Worte der Reden bleiben hängen.