Nordstadt: Identität geht verloren
Viele Wahrzeichen werden abgerissen oder haben eine ungewisse Zukunft.
Neuss. Peter Dieter Schnitzler (76) ist traurig. Der langjährige Vorstand des Initiativkreises sorgt sich, dass die Nordstadt historische Gebäude und wichtige Einrichtungen verliert, die als sichtbare Zeichen der Identität das Wir-Gefühl der Menschen auf der Furth stärk(t)en: Aus der Szenekneipe Further Hof wird ein Flüchtlingsheim, das Willi-Graf-Haus als Standort der (katholischen) Familienbildung wird schließen, das Haus Vogelsang soll einer Wohnbebauung weichen, das Privatschul-Gebäude, vormals Parkhotel, steht vor dem Abriss — und welche Zukunft die Versöhnungskirche hat, ist derzeit völlig offen. „Ein Stadtteil mit 40 000 Einwohnern wird gesichtsloser“, sagt Schnitzler, „und alle zucken nur ratlos mit den Schultern.“
Ein Patentrezept hält auch Nordstadt-Experte Schnitzler nicht in Händen, aber einen Vorschlag formuliert er dennoch: „Vielleicht setzen sich alle Beteiligten einmal an einen Tisch und suchen nach intelligenten Lösungen.“ Der Vorstand des Initiativkreises diskutierte zuletzt die Identitätsfrage der Nordstadt. „Ich verstehe die Bestrebungen von Peter Dieter Schnitzler“, sagt Geschäftsführerin Ingrid Schäfer, „aber nur Altes zu bewahren, reicht für eine prosperierende Stadt wie Neuss nicht aus.“ Schäfer sitzt als CDU-Ratsfrau auch in der Nordstadt-Konferenz ihrer Partei. Dort würden weniger „Wohlfühl-Themen“ angesprochen, sagt sie, es gehe vielmehr um Dinge wie die Verkehrslenkung.
Ähnlich sieht es Heinrich Thiel, Schriftführer des Initiativkreises, SPD-Ratsherr und Vorsitzender des Ortsvereins Nordstadt der Sozialdemokraten. Alles, was Schnitzler anspreche, sei „grundsätzlich richtig“, aber der Einfluss auf Entscheidungen Dritter sei für die Stadt oder den Initiativkreis gering. So sehe er es mit Freude, dass für den Further Hof eine Alternative gefunden worden sei: „Dort entsteht mehr als nur ein Flüchtlingsheim. Dort wird es auch eine Begegnungsstätte geben.“ Diese Entwicklung werde von der SPD „sehr begrüßt“.
Dass er die Kraft des Faktischen nicht brechen kann, weiß Peter Dieter Schnitzler. Das will er auch gar nicht. Aber es schmerzt ihn, dass vom Haus Vogelsang, das einmal einem Stadtteil seinen Namen gab, nur eine Erinnerungsplakette übrig bleiben wird. Wenn das Willi-Graf-Haus schließe, werde eine Lücke ins Angebot für Familienbildung gerissen, fehle eine wichtige Begegnungsstätte auf der Furth. Als „besonders interessant“ bezeichnet Schnitzler das 1872 errichte Haus an der Further Straße Nummer 21. Dort wurde (vermutlich) die Kunstmäzenin Thea Sternheim geboren, dort residierte Landrat Clemens Freiherr von Schorlemer, dort unterhielt das Unternehmen Bauer & Schaurte Casino und Schulungsräume, später diente der Komplex als Parkhotel und ab 1971 als Standort für die Neusser Privatschule, die 2011 an die Graf-Landsberg-Straße zog.
„Das Gebäude ist marode“, sagt Ingrid Schäfer. Es werde abgerissen und mache Wohnungen Platz. Gegenüber liegt das Werksgelände von Bauer & Schaurte. Bleibt etwas Neusser Industriekultur erhalten? Vermutlich nicht. „Wir brauchen Bauland“, sagt Ingrid Schäfer — und gibt damit die Richtung vor.