Vogteigasse in Neuss Die kürzeste Straße von Neuss
Neuss. · Die Vogteigasse ist nur 24,50 Meter lang. Eine postalische Anschrift gibt es nicht.
Würde es dieses eine Schild nicht geben, dann wüssten nur die wenigsten, dass es sich bei dem kleinen Abschnitt, der den Münsterplatz mit dem Büchel verbindet, um eine eigene Straße handelt – und zwar um eine rekordverdächtige. Denn die Vogteigasse ist mit 24,50 Meter die kürzeste Straße in Neuss, bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich allerdings als „Geister-Straße“, denn sie existiert nur auf dem Papier. Eine postalische Anschrift „Vogteigasse“ gibt es nicht. Diesbezüglich ist der Übergang vom Münsterplatz zum Büchel fließend.
Katharina Franke hat ihr Geschäft für Kinderkleidung („Hallo Sonnenschein“) auf jenem kleinen Abschnitt, der durch das Schild markiert wird. Ihre Adresse lautet jedoch „Münsterplatz 4“. Hin und wieder habe es Probleme mit verwirrten Paketboten gegeben, sagt die Inhaberin schmunzelnd.
Der Gebäudekomplex der Schuhhandlung Albeck (liegt offiziell am Büchel) erstreckt sich fast über die gesamte Länge der Gasse. Inmitten der Straße gibt sogar einen Hauseingang, der zu einem Bürotrakt führt. Inhaber Joachim Stieger verrät, dass die Gasse einst sogar noch kürzer war. „Erst durch einen Anbau zum Münsterplatz hin wurde sie verlängert“, sagt er. Alte Fotos aus den 1930er Jahren beweisen: Früher hatte die Vogteigasse sogar einmal Bürgersteige mit Parkuhren.
Ein Blick in das kürzlich vom Stadtarchiv veröffentlichte Buch „Die Straßen von Neuss“ gibt ebenfalls Einblicke in die Vergangenheit der mysteriösen Gasse. So sei der Durchgang erstmals im 17. Jahrhundert als „oberes Freithofloch“ erwähnt worden. Die Umbenennung folgte dann in Anlehnung an die Vogtei. Die Initiative zur Benennung in „Vogteigasse“ ging im Jahr 1950 vom ehemaligen Journalisten und späteren Stadtarchivar Joseph Lange aus.
Von der Vogteigasse ging es
zum Galgen oder zum Schafott
Helmut Wessels macht regelmäßig als Stadtführer durch Neuss das Mittelalter lebendig. Was er zur Vogteigasse zu berichten weiß, lässt einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen: Als der Münsterplatz noch Freithof hieß und als Gerichtshof fungierte, wurde dort über Leben und Tod entschieden. Die Verurteilten hatten dann zwei Möglichkeiten, den Platz über zwei Friedhofslöcher zu verlassen: die Vogteigasse und die Stiftsgasse. Letztere führte vor das Obertor an den Galgen. Über die Vogteigasse ging es vor das Rheintor ans Schafott – eine bühnenartig erhöhte Richtstätte für öffentliche Enthauptungen.
Auch Wessels, der ein Devotionaliengeschäft an der Krämerstraße führt, stellt bei seinen Touren immer wieder fest, dass die Vogteigasse ein Schattendasein führt: „Viele kennen sie gar nicht.“ Ein weiterer interessanter Aspekt: Über dem Eingang der Albeck-Schuhhandlung ist eine Statue des heiligen Nepomuk zu finden. „Er hat zu Lebzeiten gegen die Obrigkeit der Kirche gewettert“, sagt Wessels. Vor allem setzte er sich stark dafür ein, dass die Geistlichen das Beichtgeheimnis einhalten. Für die Geistlichen auf dem Weg zur Vogtei oder der Abtei sollte diese Statue eine mahnende Funktion haben.
Als das Albeck-Gebäude bei einem Bombenangriff im Jahr 1944 bis auf die Grundmauern zerstört wurde, blieb der heilige Nepomuk unversehrt auf seinem Sockel stehen.