Der im jugoslawischen Visegrad geborene deutsch-bosnische Schriftsteller Sasa Stanisic nannte als Titel seines Vortrags im Düsseldorfer Schauspielhaus: „Manche laufen Marathon, andere gehen ins Theater“. Das war selbstverständlich ein Scherz mit Blick auf das sommerliche Stadtgeschehen in Düsseldorf. In Wahrheit war Stanisics Thema der Tod. Leben und Tod folgen in seinen Gedankenketten oft so dicht aufeinander, dass man mit dem Denken kaum noch nachkommt.
Von der Erinnerung an den Tod einer Ringeltaube, die gegen sein Fenster flog und die er mit Ofenhandschuhen im Haus entsorgte, führt über die Feststellung, dass er in der vorigen Woche kein einziges Mal an Christian Lindner gedacht habe, die Gedankenreihung unmittelbar in Todesnähe, in ein Erlebnis des Jahres 1992, das Stanisic nicht vergessen wird: In seiner Geburtsstadt erblickte er mit 14 Jahren erstmals einen Panzer.
Flucht aus der Heimatstadt
nach Heidelberg
Damals hatten innerhalb des Bosnienkriegs bosnisch-serbische Truppen seine Heimatstadt besetzt und dort die „Serbische Republik“ ausgerufen. Stanisics Eltern flüchteten daraufhin mit ihm nach Heidelberg zu einem Onkel, der dort als Gastarbeiter tätig war. Die Eltern fanden weit unter ihrer akademischen Ausbildung Arbeit in einer Wäscherei und im Bau. Sechs Jahre später wanderten sie in die USA aus.
Aus Visegrad wird dem heutigen Bestseller-Autor Stanisic für immer seine Mathematik-Lehrerin Rozalija Mimic in Erinnerung bleiben. Verblüffend liebevoll sprach er von der Frau, welche die Schüler seiner Klasse vier Jahre lang in Angst und Schrecken versetzt habe. Diese Erfahrung wird jedoch heute davon überstrahlt, wie Rozalija Mimic die Schüler auf dem kurzen Weg in den Krieg begleitete, bis zu jener Detonation, der nicht nur die Schule zum Opfer fiel. Den Schülerinnen und Schülern schärfte sie ein, dass Nationalismus Gift für jede Gesellschaft sei. Kurz danach kniete sie vor Scherben nieder: vor der zerbrochenen Tafel, vor Rechenschiebern und allen anderen Unterrichtsmaterialien. „Mathe fällt heute wohl aus“, sagte sie Stanisic zufolge jenen beiden Schülern, die sich ebenfalls an diesem Unglücksort eingefunden hatten und die wie die Lehrerin selbst allein durch Glück überlebt hatten.
Von dort sprang Stanisic, der während seines einstündigen Vortrags unentwegt über die Bühne schritt, in unsere Gegenwart. Wenn er vom Tod spreche, so sagte er, denke er auch an den schleichenden Tod der Kultur, an die Angewohnheit, die Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft ausschließlich mit dem Blick auf Klick-Zahlen zu messen. „Wir müssen uns Zeit nehmen für Haltung, für Protest, für Nein“, so forderte Stanisic unter dem Beifall des Publikums.
Was die Zuhörer noch stärker bewegte, war seine Schilderung, wie ein Sachbearbeiter in Heidelberg die vom Staat zur Ausreise gezwungene Familie vor der Rückkehr ins kriegszerstörte Bosnien bewahrte. Statt Dienst nach Vorschrift zu verrichten, wies der Mitarbeiter der zuständigen Behörde der Familie einen Weg, wie sie zunächst nach Amerika ausreisen und später nach Deutschland zurückkehren konnte. Stanisic äußerte dazu trocken: „Sonst stünde ich heute nicht hier.“
Die Späße, die er in seinen Vortrag einstreute, ließen immer wieder durchscheinen, dass Sasa Stanisic nicht nur ein fixer Denker ist, sondern mehr noch: ein Mensch mit Haltung.