Historischer Fund im Bahnhof
Beim Umbau hat Ina Stock-Tonscheid Dokumente aus dem Jahr 1918 entdeckt.
Niedersprockhövel. Am 28. April 1918 hat Carl Hiby von der Niedergethe 140 Liter Milch mit dem Zug vom Bahnhof Sprockhövel nach Varresbeck gesendet. Bei der Witwe Kaiser war die Tagesmenge deutlich geringer: Nur sieben Liter Milch schickte sie vom Haltepunkt Bossel aus zum Bahnhof Elberfeld-Mirke an Otto Halfmann. Diese und weitere Fakten aus einer anderen Zeit wären möglicherweise nie ans Licht gekommen — würde Ina Stock-Tonscheid nicht gerade das alte Bahnhofsgebäude in Niedersprockhövel renovieren.
Im Oktober möchte sie dort einen Bioladen mit Café eröffnen. Als die Hofbesitzerin mit ihren Helfern eine Deckenverkleidung beseitigte, kam in einem Spalt ein sorgfältig zusammengelegtes Bündel Papiere zum Vorschein — dessen Einzelteile im nächsten Moment über die gesamte Baustelle segelten. „Wir waren erst einmal sprachlos“, schildert Ina Stock-Tonscheid den Augenblick, in dem sie die historische Bedeutung der Zettel erfasste.
Die Bioladen-Besitzerin hatte ein Relikt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs entdeckt: 226 vergilbte Dokumente, elf Zentimeter breit und 21 Zentimeter lang, belegen die Versandabfertigung über Milchlieferungen der Sprockhöveler Bauern ins Ruhrgebiet und ins Wuppertal. Sie stammen allesamt aus dem Monat April 1918.
„Die Versandscheine sind ein Mosaikstein in der Geschichte unserer Region im Ersten Weltkrieg“, beschreibt Karin Hockamp vom Sprockhöveler Stadtarchiv den Fund, den sie gestern offiziell in Empfang nahm. „Es sind Versand- und Zielbahnhof vermerkt, Empfänger beziehungsweise Händler, Absender, Anzahl der Milchgefäße und gelieferte Milchmenge.“ Letztere sei besonders interessant, sagt die Archivarin: „Es ist erstaunlich, dass in einer Zeit der Lebensmittelknappheit und Rationierung bis zu 170 Liter Milch am Tag verschickt wurden.“
Die Scheine, die nur eine einstellige Litermenge dokumentierten, beschwören Bilder von Frauen herauf, die ihren Karren mit Milchflaschen durch das Dorf zogen. Allerdings hätten längst nicht alle Erzeuger die Milch ihrer Kühe mit der Bahn verschickt, sagt Hockamp. Viele hätten ihre Milchkannen per Pferd und Wagen in die Städte zu den Milchhändlern gebracht.
„Es ist ein komisches Gefühl, die alten Dokumente zu sehen — das ist so lange her“, sagt Stock-Tonscheid. Ihrem Stiefvater sind einige Namen auf den Versandscheinen bekannt, wie die 36-Jährige sagt: „Viele haben eine langjährige Tradition in der Landwirtschaft.“
Die empfindlichen Scheine bewahrt Karin Hockamp nun in einem säurefreien Karton auf. „Sie kommen zu meiner Sammlung zum Ersten Weltkrieg“, sagt sie. Im Stadtarchiv werden die Belege digitalisiert, um als Recherchequelle zu dienen.