Sonst verboten, in Düsseldorf erlaubt: Die Kunstwerke des Bildhauers sollen berührt werden Tony Craggs Kunst zum Anfassen

DÜSSELDORF · Der Wahl-Wuppertaler Tony Cragg schafft seit 50 Jahren Skulpturen, die zu den sehr wertvollen in der Kunstwelt zählen. Nun gibt er 30 von ihnen zum Anfassen frei.

Aus „Anfassen streng verboten!" wird „Bitte berühren!" (Please touch!). Bildhauer Tony Cragg (74) und der Düsseldorfer Kunstpalast brechen mit einem ehernen Museumsgesetz. Bei der  Ausstellung „Please touch!" ist der Name Programm und Anfassen erlaubt.

Foto: dpa/Oliver Berg

Ausnahmezustand in der Kunstszene: Berühren von raumhohen Skulpturen? Unmöglich, ja verboten. Bisher konnte man nur davon träumen „Wie schön mag es sein, Kunst zu berühren, die mich berührt!“ Im Düsseldorfer Kunstpalast ist dieses Verbot nun bis zum 26. Mai aufgehoben, allerdings nur in den Hallen der ersten Etage, in denen 30 Plastiken des Wahl-Wuppertalers Tony Cragg  nicht nur zu bewundern sind: „Please touch!“. Wie eine Aufforderung klingt der Titel der ersten Ausstellung dieser Art in einem deutschen Museum – mit Meisterwerken eines bedeutenden Bildhauers unserer Tage. Denn mittlerweile ist der Wuppertaler Ehrenbürger, der Deutsch-Brite Cragg, in den meisten Museen und namhaften Sammlungen vertreten.

Seine Skulpturen mit ihren handschmeichelnden, manchmal wellenförmigen Oberflächen laden einfach dazu ein – wenn auch nur zu einem flüchtigen Handauflegen. Jeder möchte sie streicheln. Es ist aber in der Regel strikt untersagt. Aus guten Gründen. Nicht nur wegen der strengen Auflagen von Kunst-Versicherungen. Nach Aussage des Künstlers hinterlässt jeder kleine Schweißtropfen einer Hand seine Spuren, verändert die Oberfläche von Craggs meterhohen Werken aus Bronze, Metall, Glas, Kunststoff oder aus Steinen wie Travertin. So stammen – neben nur einer Leihgabe – alle ausgestellten Objekte aus Craggs Besitz. Ob das Publikum Spuren darauf hinterlässt und die Werke nach der Ausstellung gereinigt und überarbeitet werden müssen, wird man sehen. Falls ja, werden sich auch dafür vermutlich Sponsoren finden.

Nur jetzt und nur in dieser Abteilung – allen international geltenden Museumsregeln zum Trotz – heulen keine Sirenen und Alarmanlagen auf, wenn jemand die hoch versicherten Werke anfasst. Mehr noch: Intensives oder nur kurzes Berühren ist erwünscht. Das erklären Tony Cragg und Düsseldorfs Kunstpalast-Chef Felix Krämer. Es geht ihnen um die sinnliche Erfahrung von Kunst. Erst damit könne man manche Werke „richtig be-greifen“, sagt der Museumsmann.

Kunst anzufassen, scheint im Trend zu liegen; so öffnete kürzlich im Duisburger Lehmbruck-Museum die Schau „Shape – Körper und Raum begreifen“: In dieser interaktiven Ausstellung des Ruhr-Museums dürfen ebenfalls Plastiken von Künstlern angefasst und per Computersteuerung dem eigenen Body angepasst werden. Zumindest im Souterrain. Allerdings muss man in Duisburg zum Tasten weiße Stoff-Handschuhe überstülpen.

Im Düsseldorfer Kunstpalast darf man es mit bloßer Hand. „Immer wenn ich bei Kunstsammlern zu Gast bin“, berichtet Krämer, „geht es nach einiger Zeit darum, die wertvollen Objekte mal kurz anzufassen.“ Viele der Sammler lassen sich zudem gerne in dem Augenblick fotografieren, wenn sie sich an ihre Skulptur lehnen oder berühren. Von dieser Beobachtung geleitet, entwickelte Krämer – kurz vor den Corona-Lockdowns – das Ausstellungskonzept und fand in Tony Cragg einen interessierten, risikobereiten Partner.

„Es ist ein Experiment,“ betont er. Spannend wird es, wie und ob die Besucher mitmachen, ob sie wagen, ihre Hände in die geschwungenen Furchen von Craggs raumhohem „Stak“-Gebilde aus Holz (2019) hineinzulegen. Oder in die ohrenartigen Öffnungen und Vertiefungen des Holz-Labyrinths „Mean Average“ (2020) mit Armen und Händen hineinzugreifen. Oder ob sie es wagen, die wie eine Riesen-Krake ausholende und raumgreifende Fiberglas-Plastik „Companion“ zu berühren. Trotz der immensen Höhe ist sie federleicht, bewegt sich beim leisesten Antippen. Beim gewichtlosen Handauflegen fühlt sie sich wohlig warm an – ähnlich wie die meisten Exponate aus massivem Holz oder Kunststoff.

Ähnlich schwerelos fühlt sich der sich schlängelnde Hohlkörper aus grau-grünem ‚Kevlar‘ an. Das Objekt aus synthetischem Faser-Material, das auch für den Flugzeug-Bau benutzt wird, erinnert an eine Fantasy-Raupe. Angenehme Temperaturen spürt man ebenso beim Berühren von Tausenden von Spielwürfeln, die Cragg bereits 1995 zum Fantasiegebilde „Secretus“ verarbeitete – mit nach oben geschwungenem Rüssel neben einer halbrunden Vertiefung, die an ein Taufbecken erinnert.

Eiskalt fühlen sich dagegen die geschwungene, kurvenreiche Hoch-Skulptur „Justine“ (2015) aus poliertem Edelstahl an. Oder das wildschweinartige Wesen aus Bronze. Überzogen ist der klingende Hohlkörper mit Schokoladenbraun. Mit sattem Bananen-Gelb indes übermalte Cragg die Bronze „Outspan“ (2008), deren gefächerte Oberfläche an ein Pfauenrad oder an eine gerade aufgesprungene Jakobsmuschel erinnert. Eine Farbtechnik, die Cragg, wie er hinzufügt, erst seit erst 2008 anwendet.

In die Handflächen hinein kratzen dagegen die Verästelungen der baumähnlichen Bronze-Plastik „Manipulations“ (2017): Es sind Hunderte von kleinen ausgestreckten Händen. Ein vergleichbares Tast-Gefühl bietet „Wave“ (2022) – eines der neueren Cragg-Bronzen. Diese biegende, sich gerade brechende Welle mit Tausenden von winzigen Menschenkörpern weist auf die gespenstische Gewalt einer Sintflut.

Im letzten Raum heißt es „Back to reality“ – und damit zu „Don’t touch!“ Es ist Craggs Künstler-Werkstatt mit über fünf Meter hohen Regalen und Hunderten, wenn nicht Tausenden von Modellen in Rohform, Werkzeugen, Gips-Büsten und -Skulpturen in zigfacher Ausfertigung, Pinseln, Farbtuben etc. Klar, dass der Künstler in seinem Allerheiligsten keinen Spaß kennt. Und sich jedes Betatschen verbietet.

Katalog? Fehlanzeige. Stattdessen eine 200er-Edition-Maske mit einem Abguss von Tony Craggs Gesichts. Gefertigt aus umweltfreundlichem Eierkarton aus Hanf. Signiert und gestempelt: 200 Euro. Unsigniert: Zwölf Euro.