Mit „Plastic Hearts“ präsentiert sich Miley Cyrus von einer ganz neuen Seite Veränderung als künstlerisches Prinzip

Nach dem letzten Album „Younger Now“ sind drei lange Jahre ins Land gegangen. Jahre, in denen Miley Cyrus sich neu sortieren, ja neu erfinden musste. Denn Hand aufs Herz: „Younger Now“ war aus kommerzieller Sicht ein Flop.

Vom Teenie-Star zur Musikerin mit Welterfolg: Miley Cyrus

Foto: dpa/Jordan Strauss

Nicht wenige Fans und Kritiker hatten den ehemaligen Kinderstar mit dieser Scheibe, die offen mit Country-Einflüssen liebäugelte und wenig Hitpotenzial entfaltete, schon abgeschrieben.

Aber warum eigentlich? Wer sich auch nur ein wenig mit Miley Cyrus und ihrem langen Weg von der „Hannah Montana“ bis zum stets durch kleinere und größere Skandale watenden Popstar beschäftigt hat, der wird festgestellt haben, dass rein künstlerisch bei der Sängerin noch nie ein Karriereschritt dem vorherigen geglichen hat.

„Ich bin nicht die Person, die ich gestern war. Alles ändert sich, und ich ändere mich auch jeden Tag. Ich nehme einfach alles auf und absorbiere es, weshalb ich mich sehr schnell entwickele“, gibt sie in ihrem jüngsten Interview mit „Apple Music“ zu. Und: „Ich brauchte Ruhe, um dieses Album zu schreiben.“ Zeit also, um sich zurückzulehnen und sich über einige Dinge klar zu werden. Kein Wunder, denn schließlich hatte es in den letzten zehn Jahren abseits der Musik genug Lärm und Wirbel um die Sängerin aus Nashville gegeben. Dort, wo sie zunächst als bezaubernde Landschönheit bejubelt wurde, galt sie bald als verruchter Pseudo-Punk mit schrägen Tattoos und schräg-provokanten Statements. Ihre Auftritte bei öffentlichen Events waren oftmals ebenso „geschmackssicher“: Bei den MTV Europe Music Awards gönnte sie sich während ihrer Dankesrede einen Joint. Und Pech hat sie dann ebenfalls vor aller Augen: Vor zwei Jahren brannte ihr Haus in Kalifornien ab. Vergangenes Jahr wurde sie von einem verrückten Fan bedrängt, der seine Lebensaufgabe darin sah, den Star zu schwängern Erst die Polizei beendete die bizarre Stalking-Aktion. 2020 dann als globale Katastrophe, die sie dazu brachte, ihre Werte zu überdenken.

Eine Frau mit aggressiver Idee

„Manchmal glaube ich nicht an Karma“, sagte Miley Cyrus jüngst, die eben diesen Begriff sogar unter der Haut trägt. Stattdessen scheint sie an laute Antworten und deftige Reaktionen auf extreme Situationen zu glauben. Denn das ist es, was „Plastic Hearts“ dem Fan bereits mit dem Opener des Albums – „WTF Do I Know“ – kredenzt. „Es geht ein wenig um die Art, wie ich an das Songwriting herangehe,ohne mich für irgendetwas zu entschuldigen“, sagt sie im Apple Music-Interview. Und damit meint sie vor allem die Art und Weise, wie sie ihren Kopf schon auf dem letzten eher unkommerziellen Album durchgesetzt hat.

„Dass ich als Frau die ‚aggressive‘ Idee umsetze und aus dem Mainstream ausbreche, trifft natürlich nicht überall auf Gegenliebe – es wirkt auf manche sogar unhöflich“, stellt Miley fest. Manche Menschen in ihrem engeren oder weiteren Umfeld mögen sie sogar dafür hassen, dass sie versucht, in einer vorgezeichneten Glamour-Welt immer wieder Dinge zu tun, die nicht geplant sind und sie wieder über Bord wirft, sobald die Image-Hüter sie doch noch ins Drehbuch schreiben wollen.

Vielleicht handelt der neue Song „Hate Me“ mit seinem düsteren Vers „I wonder what would happen if I die, I hope all of my friends get drunk and high, Would it be too hard to say goodbye? I hope that it‘s enough to make you cry, Maybe that day you won‘t hate me“ genau davon, vielleicht aber auch nur von einer gescheiterten Liebesbeziehung. Die prophetische Zeile „Go ahead, you can say that I‘ve changed“ bildet in jedem Fall den Kern des Albums sowie des gesamten Mysteriums Miley Cyrus ab: Veränderung. Immer und immer wieder. So, dass es schon beinahe nach einer nie enden wollenden Flucht vor dem aussieht, was für andere Menschen ihr aktuelles Ich zu sein scheint. Eine Flucht vor dem, was sie zum Stillstand, ja vielleicht zum Gehorsam zwingt.

Kein Wunder also, dass sie auf der ersten Single aus „Plastic Hearts“ die Flucht über die „Midnight Sky“ Road als höchstes Gut ausgibt, wenn sie anklagt: „Lotta years went by with my hands tied up in your ropes“. Es geht bei Miley Cyrus im Grunde immer nur um das Thema Selbstverwirklichung um jeden Preis. Mit aller notwendigen Vielfalt an der Stelle einer greifbaren Schublade. Und so ist auch die musikalische Bandbreite auf dem Album zu erklären. Vielleicht ist das nur ein Marketing-Gag. Vielleicht aber auch das Geheimnis einer rastlosen Künstlerin, die stets aufs Neue in Schemata gepresst werden soll, denen sie bereits wieder entkommen ist, bevor man sie ausgesprochen hat. Jüngstes Beispiel: ihr Hang zu härterer Musik.

Harte Statements für
harten Rock?

Was sich in den vergangenen Jahren immer häufiger herauskristallisierte, war Mileys Hang zur etwas härteren musikalischen Gangart. Vor allem Pink Floyd und Metallica haben es ihr angetan. Wenn sie „Nothing Else Matters“, „Comfortably Numb“ oder „Wish You Were Here“ performte, wirkte die 28-Jährige, als sei sie mit sich im Reinen. Zudem ließ sie immer mal wieder fallen, dass sie sich mit vielen ihrer Pop-Hits nicht wirklich identifizieren könne. „Ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen, wenn es um meine Musik geht“, sagte sie dazu passend.

Als sie ankündigte, nicht nur Duette mit Billy Idol und Joan Jett auf der neuen Platte zu singen, sondern bereits an einem Album mit Coverversionen von Metallica zu arbeiten, war einem Großteil der Kritikerschar sofort alles klar: Miley Cyrus ist ab sofort eine Rock-Röhre. Dass sie das kann, ist keine Frage – und wird leider von vielen immer wieder vergessen, die in ihr das Pop-Sternchen sehen und nicht die Musikerin, deren „Jolene“-Version ob ihrer Intensität schon vor Jahren Dolly Parton die Tränen in die Augen getrieben hat und die auf der anderen Seite etwas später Billy Idols „Rebel Yell“ mit einer Wucht ablieferte, dass der Altstar mehr als nötig ins Schwitzen geriet.

Viele Tracks auf „Plastic Hearts“ schlagen vor allem gesanglich eine sehr viel rauere Gangart an als man bislang vielleicht noch von ihr gewohnt war. Und doch ist das Album beileibe keine schnöde Miley-goes-Metal-Arbeit. Insgesamt klingt die Platte immer noch nach Popmusik, allerdings mit einer unerhört erwachsenen Note und musikalischen Bandbreite.

Wer Miley Cyrus 2020 wieder aufgrund eines Cowboy-Huts, eines schnell in dieser Woche noch publik gewordenen Rückfalls in alte Trink-Gewohnheiten und ein paar Statements zu großen Rock- und Metal-Acts in eine bestimmte Ecke stellen will, wird enttäuscht werden. Stattdessen sollte man eben das tun, was sie seit Jahren im Grunde ausdrückt: sich einfach mal auf Vielfalt und Veränderungen einlassen und schauen, wohin es einen führt.