„Situation deutlich verschärft“ Dramatischer Anstieg bei Zahl der antisemitischen Vorfälle in NRW erfasst

Düsseldorf · Gewalt, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Co.: Die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle in NRW ist zuletzt deutlich gestiegen. Aus welchen Städten besonders viele Fälle gemeldet wurden.

Foto: dpa/Federico Gambarini

664 antisemitische Vorfälle hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen (RIAS NRW) im Jahr 2023 erfasst. Das entspreche einer Steigerung von 152 Prozent im Vergleich zum Vorjahr mit 264 Fällen.

Insgesamt seien zwei Fälle von extremer Gewalt, 16 Angriffe, 16 Bedrohungen, 59 gezielte Sachbeschädigungen, zehn Massenzuschriften, 117 Versammlungen, fünf Diskriminierungen sowie 439 Fälle von verletzendem Verhalten registriert. „Besonders erschütternd ist die hohe Zahl antisemitisch motivierter Angriffe und Bedrohungen, die sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt bis verdreifacht hat“, heißt es im Jahresbericht weiter.

„Seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 hat sich die Situation auch hier in Deutschland und in NRW noch einmal deutlich verschärft: Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist seitdem deutlich gestiegen und auf einem hohen Niveau geblieben. Es ist daher heute dringender denn je, gesamtgesellschaftlich gegen Antisemitismus vorzugehen“, wurde Josefine Paul, Familien- und Integrationsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, in der Mitteilung zum Jahresbericht am Dienstag zitiert.

Antisemitismus in NRW: Köln, Düsseldorf und Co. – hier wurden die meisten Vorfälle gemeldet

Die meisten antisemitischen Vorfälle wurden nach den Angaben im Regierungsbezirk Köln (257) erfasst, danach folgen die Bezirke Düsseldorf (176) Arnsberg (119), Münster (67) und Detmold (41). In dem Jahresbericht werden in der Region unter anderem Vorfälle in Wuppertal, Düsseldorf, Krefeld und Moers thematisiert. Auf dem Berliner Platz in Wuppertal gab es nach den Angaben am 15. Oktober eine Demonstration, bei der das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung als „Widerstand“ legitimiert wurde. In Düsseldorf waren in Oberbilk mehrere verklärende Plakate der mittlerweile verbotenen Organisation „Samidoun“ angebracht worden. Aus Krefeld wurde ein Foto gezeigt, dass eine Hausfassade zeigt, die mit einem Davidstern „markiert“ wurde. „Diese Markierungen erinnern an die Kennzeichnungspraxis im Nationalsozialismus“, heißt es im Jahresbericht. Zu einem Vorfall in Moers wird berichtet, dass drei Jugendliche ein Mahnmal für ermordete Juden bespuckten. Einen Zeugen sollen sie beleidigt und eine volle Getränkedose nach ihm geworfen haben, die nur knapp seinen Kopf verfehlte. Obwohl es in der Moerser Innenstadt zu dem Vorfall gekommen sei, habe kein anwesender Passant eingegriffen. Antisemitische Vorfälle ereigneten sich nach den Angaben vor allem im öffentlichen Raum und in „alltagsprägenden Bereichen“.

Eine Auflistung der Vorfallszahlen für die fünfzehn größten Städte in NRW, die RIAS unserer Redaktion zur Verfügung stellte, zeigt, dass es besonders viele Meldungen aus Köln und Düsseldorf gab. Wichtig für den Hintergrund dabei ist jedoch, dass das die Zahl der Meldungen auch von existierenden Strukturen der jeweiligen Stadt und der Bekanntheit der Meldestelle beeinflusst wird. In Köln existiere beispielsweise seit 2001 eine Meldestelle für Antisemitismus, die auch in der Stadtgesellschaft bekannter sei, so ein Sprecher der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in NRW.

  • Köln: 176
  • Düsseldorf: 73
  • Dortmund: 57
  • Essen: 14
  • Duisburg: 17
  • Bochum: 14
  • Wuppertal: 5
  • Bielefeld: 17
  • Bonn: 21
  • Münster: 12
  • Mönchengladbach: 6
  • Gelsenkirchen: 25
  • Aachen: 17
  • Krefeld: 5
  • Oberhausen: 9

„Besondere Sorge bereitet uns die virulenteste Form des Antisemitismus, der israelbezogene Antisemitismus. Oft gebe es eine „Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel, indem der jüdische Staat mit dem Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten in eins gesetzt wird, um zu behaupten, israelisches Regierungshandeln verfolge als Staatsziel und -programm die vollständige Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung. Israel wird milieuübergreifend als Stachel einer unerwünschten Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah wahrgenommen“, erklärte Jörg Rensmann, Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW.

Unter den Vorfällen waren Rensmann zufolge auch zwei Fälle von extremer Gewalt, bei denen Jüdinnen und Juden physisch angegriffen wurden und zweimal versucht worden sei, deren Haus anzuzünden. „Solche extremen Angriffe tragen im Höchstmaß zur Unsicherheit von Jüdinnen und Juden bei uns bei“, sagte er.

Zu den dokumentierten Vorfällen gehörten allein fast 440 verbale Angriffe mit Beleidigungen und Bedrohungen. Seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober schnellte auch der auf Israel bezogene Antisemitismus in die Höhe. Dazu gehören etwa die Delegitimierung und Dämonisierung Israels bis hin zur Leugnung des Existenzrechts des Staates Israels. In mehr als 200 Fällen wurde Rensmann zufolge auch der beispiellose Massenmord an Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Regime offen geleugnet oder bagatellisiert.

In einem besonders eklatanten Fall wurde nach Angaben Rensmanns ein älteres Ehepaar in Bonn mehrfach an seiner Wohnungstür bedroht. Kurz nach dem Hamas-Terroranschlag habe ein Mann an der Tür des Ehepaars geklingelt und wörtlich gesagt: „Beim nächsten Mal komme ich mit meinem großen Aschenbecher und da passt die Asche von 500 Güterwagen rein.“ Jedoch habe ein Polizeibeamter dem Ehepaar von einer Anzeige abgeraten, weil er den antisemitischen und äußerst bedrohlichen Inhalt des Satzes nicht erkannt habe, so Rensmann. Dieses Beispiel zeige, dass es Handlungsbedarf zur Aufklärung über Antisemitismus auch bei der Polizei gebe. Inzwischen ermittelt der Staatsschutz in dem Fall.

Integrations- und Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) rief dazu auf, antisemitische Vorfälle bei der Polizei anzuzeigen. Antisemitismus sei „Gift für unsere demokratische Gesellschaft“ und eine „reale Bedrohung für die in unserem Land lebenden Jüdinnen und Juden“, sagte sie. Am häufigsten ereigneten sich die Vorfälle auf der Straße, im Internet, in öffentlichen Verkehrsmitteln und im unmittelbaren Wohnumfeld. Ein weiterer Hotspot für Antisemitismus seien Schulen und Hochschulen. „Diese Entwicklung ist höchst alarmierend und verstörend“, sagte Paul.

Antisemitismus sei auch in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt. In den vergangenen Wochen sei aber noch mal ein neues Ausmaß zu erleben. „Hier bricht sich offener Antisemitismus Bahn, wenn lauthals antisemitische Stereotype und Haltungen geäußert und Jüdinnen und Juden angegriffen werden.“ Zugleich zeige die hohe Zahl der erfassten Vorfälle aber auch, dass es eine größere Sensibilität für Antisemitismus und Diskriminierung in der Gesellschaft gebe.

Die RIAS-Meldestelle NRW hatte im April 2022 ihre Arbeit aufgenommen. Solche Meldestellen gibt es mittlerweile in elf Bundesländern. Sie sollen dabei helfen, Informationen auch über antisemitische Vorfälle im Alltag zu sammeln, die unterhalb der Strafverfolgungsschwelle liegen.

Der kürzlich vorgelegte neue NRW-Verfassungsschutzbericht verzeichnet für 2023 einen drastischen Anstieg bei antisemitischen Straftaten um 65 Prozent auf einen neuen Höchststand von 550 Taten. RIAS-Leiter Rensmann betonte, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, als seien nur Migranten Träger von Antisemitismus. „Das ist absolut falsch. Und die größere Sorge, die uns umtreibt, ist tatsächlich, dass diese Formen des Antisemitismus milieuübergreifend funktionieren.“

Bedrohliche Protestcamps an Unis

Eine „bedrohliche Situation“ sieht Nicole Pastuhoff, Präsidentin des Jüdischen Studierendenverbandes NRW, auch an den Hochschulen in NRW. Mit den propalästinensischen Protestcamps sei ein Trend aus den USA nach Deutschland herübergekommen. Die Hochschulen wüssten oft nicht, wie sie damit umgehen sollen, weil die Camps größtenteils von externen Gruppierungen organisiert würden, die genau wüssten, was erlaubt sei und von der Polizei toleriert werde. Sie wünsche sich eine „andere Gangart“ der Hochschulleitungen gegenüber den Protestcamps. Sehr viele unzumutbare Aussagen und Plakatierungen würden dort stehen gelassen - teilweise auch von der Polizei.

Nach RIAS-Erkenntnissen gibt es in den Protestcamps an Unis eindeutig antisemitische Äußerungen, auch Hamas-Symbole würden ganz offensiv verwendet. „Bestimmte Äußerungsformen fallen aus unserer Sicht nicht unter die freie Meinungsäußerung“, sagte Rensmann. Von den Protestcamps aus würden auch verbale Angriffe geführt und jüdischen Studierenden gedroht. Das Demonstrationsrecht in einer Demokratie sei zwar ein hohes Gut, sagte auch Ministerin Paul. Es müsse Raum für Auseinandersetzung geboten werden, zugleich aber genauso Schutz vor Diskriminierung und Anfeindungen.

(pasch/dpa)